Statement 25.09.2022

Von Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, alternierender Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege e.V. (DAJ)

Der 25. September ist seit über 30 Jahren der Tag der Zahngesundheit und steht in diesem Jahr unter dem Motto „Gesund beginnt im Mund – in Kita und Schule“: Damit wird der Blick der Öffentlichkeit auf die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe gerichtet, die flächendeckend für alle Kita- und Schulkinder in Deutschland angeboten wird. Die Gruppenprophylaxe ist ein modernes, bundesweites Präventionsprogramm, das die (mund-)gesundheitliche Chancengleichheit in Deutschland voranbringt. Solche Ansätze sind nach zwei Jahren Pandemie, in denen die Kindergesundheit in nahezu allen Bereichen nachweislich gelitten und die Ungleichheit zugenommen hat, von höchster Bedeutung: 17 Landesarbeitsgemeinschaften mit ihren Zahnärztinnen und Zahnärzten aus den zahnärztlichen Praxen und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst sowie den Prophylaxefachkräften agieren partnerschaftlich mit Kitas und Schulen. Dabei entfalten sie vielfältige Aktivitäten, damit alle Kinder die Gesunderhaltung ihrer Zähne regelmäßig im Rahmen ihres Bildungswegs erlernen können. Jetzt mehr denn je müssen Bildungs-und Gesundheitspolitik gemeinsam die nötigen Voraussetzungen schaffen, damit Kinder in Deutschland – nicht nur auf den Mund bezogen – gesund aufwachsen und für ihre eigene Gesunderhaltung Sorge tragen lernen!

Seit über 30 Jahren ist § 21 SGB V Grundlage dieser Gruppenprophylaxe-Aktivitäten und wird durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) aktiv mitgestaltet. Im Zentrum dieser Aktivitäten stehen neben den zahnärztlichen Untersuchungen vor allen Dingen die Vermittlung der Mundhygiene, die Ernährungsberatung und die Zahnschmelzhärtung. Die Vermittlung erfolgt vorrangig in Gruppen in Kindergärten und Schulen bis zum 12. Lebensjahr und in Bereichen, bei denen das Kariesrisiko der Schüler überproportional hoch ist, sogar bis zum 16. Lebensjahr. Gleichzeitig wird eine Verweisung zur zahnärztlichen Behandlung sowie zur regelmäßigen zahnärztlichen Untersuchung vorgenommen. Darüber hinaus gibt es Informationsveranstaltungen für Eltern und eine enge Zusammenarbeit mit den Erzieherinnen und Erziehern sowie dem Lehrpersonal.

Gemeinsam wirken der Spitzenverband der GKV, Vertreterinnen und Vertreter der Landesarbeitsgemeinschaften, der kommunalen Spitzenverbände, des Bundesverbandes der Zahnärztinnen und Zahnärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) im Rahmen der DAJ für die Koordinierung, Unterstützung und Weiterentwicklung auf Bundesebene. Jährlich werden die Dokumentationen zusammengeführt, die belegen, dass rund 4,6 Millionen Kinder und Jugendliche an der Gruppenprophylaxe teilnehmen, und dies sogar mehrmals pro Jahr. Der Betreuungsgrad beträgt in Kindertagesstätten und Grundschulen fast 80 Prozent aller Kinder. Damit ist die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe das reichweitenstärkste Präventions- und Gesundheitsförderungsangebot für Kinder und Jugendliche in Deutschland.

Die Erfolge seit Einführung der Gruppen- und Individualprophylaxe zu Beginn der 90er Jahre sind beträchtlich, vielfach dokumentiert und zeigen bei den 12-Jährigen einen sehr deutlichen Kariesrückgang. 80 Prozent dieser Altersgruppe sind kariesfrei. Gleichzeitig zeigt aber die sog. DAJStudie aus dem Jahr 2016, dass bei den 6- bis 7-Jährigen nur eine marginale Kariesreduktion im Milchgebiss stattfindet. Festzustellen ist, dass im zeitlichen Verlauf eine gegenläufige Entwicklung für die Kariesprävalenz im Milch- und bleibenden Gebiss stattfindet. Gleichzeitig gibt es eine klare Polarisierung des Kariesbefalls nach sozio-ökonomischen Parametern. Da auch der Kariessanierungsgrad im Milchgebiss durchschnittlich unter 50 Prozent liegt und damit die Vorstellung in der zahnärztlichen Praxis in der Lebensphase von 0 bis 6 Jahren nicht zeitgerecht und regelmäßig erfolgt, ist aufsuchende Gruppenprophylaxe (der sog. Setting-Ansatz) eine wesentliche Maßnahme zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit.

Die DAJ hat in Auswertung ihrer Studie erweiterte Empfehlungen für die Gruppenprophylaxe für unter 3-Jährige im Jahr 2016 vorgelegt. Um frühkindliche Karies – auch bekannt als Nursing Bottle Syndrome oder Nuckelflaschenkaries – zu vermeiden, ist es notwendig, gerade die Zielgruppe der unter 3-Jährigen zu erreichen. Diese Zielgruppe ist wichtig, um im Milchgebiss eine generelle Kariesreduktion zu erhalten. Bundesweit leiden 10 bis 15 Prozent dieser Kinder an frühkindlicher Karies – diese ist somit die häufigste Erkrankung des Kleinkindes. Von zentraler Bedeutung für diese Zielgruppe sind neben den Eltern die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas als Bezugspersonen. In ihren im Jahr 2020 zusammengefassten Empfehlungen der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege zur Weiterentwicklung der Gruppenprophylaxe fordert die DAJ, dass die Mundgesundheitsförderung Bestandteil jedes Kita-Konzeptes sein muss. Dabei geht es primär um die Ritualisierung der Mundhygiene gemeinsam mit ihren Bezugserzieherinnen und Bezugserziehern mit fluoridhaltiger Zahnpasta. Das Motto dieser Aktivitäten lautet „Von der Gruppenprophylaxe in der Kita zur Gruppenprophylaxe mit der Kita“. Nützlich für die Durchführung der Mundhygiene in der Gruppe waren die im Jahr 2021 gemeinsam von den pädiatrischen und zahnärztlichen Berufsvertretungen erarbeiteten Empfehlungen zur Kariesprävention mit Fluorid. Auch die DAJ hat im Netzwerk „Gesund ins Leben“, welche diese Empfehlungen herausgegeben hat, aktiv für die Belange der Gruppenprophylaxe mitgearbeitet.

Wie in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zeigt die Pandemie erhebliche Auswirkungen auch auf die Durchführung der Gruppenprophylaxe. So wurden zeitweise in vielen Landesbereichen die Aktivitäten vollständig eingestellt. Zeitnah hat die DAJ in Abstimmung mit den Hygienewissenschaften entsprechende Hygieneempfehlungen für das Zähneputzen in Gemeinschaftseinrichtungen herausgegeben. Trotzdem verzeichnen wir weiterhin eine sehr große Zurückhaltung bei den Maßnahmen. Darüber hinaus ist festzustellen, dass Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes im Rahmen der Pandemiebekämpfung eingesetzt wurden und somit vielfach für die Gruppenprophylaxe nicht zur Verfügung standen. Auch hat die Pandemie wie ein Brennglas aufgezeigt, dass der Personalpool an Erzieherinnen und Erziehern in den Kindertagesstätten bei stark zugenommenen Arbeitsaufgaben nicht ausreichend ist. Zusätzlich sind auch die baulichen Voraussetzungen in zahlreichen Kindertagesstätten speziell für die Durchführung der Mundhygiene unzureichend. All diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass Mundhygienemaßnahmen im Rahmen der Gesundheitserziehung in den Kitas immer häufiger nicht mehr durchgeführt werden. Zahlreiche Fallberichte weisen auf eine deutliche Vernachlässigung der Mundhygiene und ein gesundheitsgefährdendes Ernährungsverhalten hin. Da die in Folge dieser ungünstigen Voraussetzungen entstehende Karies oftmals ein längerer Prozess ist, liegen derzeit noch keine belastbaren Daten zu einer absehbaren Verschlechterung der Mundgesundheit der Kinder und Jugendlichen vor. Zusätzlich wird auch aus den zahnärztlichen Praxen berichtet, dass die Inanspruchnahme der zahnärztlichen Vorsorge bei den Kindern und Jugendlichen abgenommen und die Auswirkungen nach einer längeren Phase der Abwesenheit deutlich sichtbar werden. Insgesamt ist dies ein deutliches Alarmsignal für die Mundgesundheit der Kleinkinder und es bedarf im Kontext mit der 7. Stellungnahme des ExpertInnenrates der Bundesregierung zu COVID-19 „Zur Notwendigkeit einer prioritären Berücksichtigung des Kindeswohls in der Pandemie“ einer deutlich höheren Beachtung.

Erfreulich sind hingegen die internationalen Entwicklungen im Bereich der WHO und FDI (Weltzahnärzteorganisation). Beide Organisationen weisen auf die Bedeutung der Mundgesundheit im Kontext der allgemeinen Gesundheit als ein wesentliches globales Gesundheitsziel hin und verweisen auf die Notwendigkeit weiterer präventiver Aktivitäten in den Ländern. Dabei wird in allen Papieren auf die hohe Bedeutung bevölkerungsweiter und gruppenprophylaktischer Aktivitäten hingewiesen. Auch in Deutschland wird dem Öffentlichen Gesundheitsdienst in Folge der Pandemie mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst eine höhere Bedeutung zugemessen. Damit steht auch die Zahnmedizin vor der Aufgabe, die Verhaltens- und Verhältnisprävention in den Settings zu verstärken. Leider gibt es im Rahmen der Wissenschaft und Hochschullandschaft deutschlandweit noch keinen Lehrstuhl im Bereich Dental Public Health und dieser Fachbereich ist im Gesamtgefüge von Public Health massiv unterrepräsentiert. Auch ist es zukünftig erforderlich, dass sich die niedergelassene Zahnärzteschaft im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgaben und ethischen Verpflichtungen weiterhin verstärkt in der Gruppenprophylaxe engagiert. Darüber hinaus bietet die Gruppenprophylaxe mit ihrem Setting-Ansatz einen idealen Ansatz für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, was nicht zuletzt als sog. Blaupause bei dem zwischenzeitlich novellierungsbedürftigem Präventionsgesetz sichtbar wurde.

Insgesamt steht die Gruppenprophylaxe in Deutschland vor zahlreichen Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund hat die DAJ sich bereits an den Bundesminister für Gesundheit zur Unterstützung ihres Anliegens gewandt. Kernpunkte dabei sind politische Schritte, die Rahmenbedingungen für das tägliche Zähneputzen in Kindergärten sowie Schulen deutlich zu verbessern und damit dem Zähneputzen den Stellenwert im Rahmen der Gesundheitserziehung zu verschaffen. Gleichzeitig gilt es, die Gesundheitsberichterstattung für eine zielgerichtete Planung auch der Gruppenprophylaxe deutlich zu verbessern. Die DAJ erwartet, gerade in diesem Jahr, ein klares Signal für die Unterstützung von Gesundheitsförderung und Prävention, die pandemiebedingt einen wesentlich größeren Raum einnehmen muss. Wir sind der festen Überzeugung, dass Veränderung im Verhalten, aber auch gleichzeitig Veränderungen in den Verhältnissen, bei denen die Gruppenprophylaxe eine zentrale Rolle einnimmt, die Erfolge bei der Mundgesundheit sichert und die Herausforderungen insbesondere im Milchgebissbereich angehen kann. Möge der heutige Tag der Zahngesundheit ein deutliches Signal in alle Politikbereiche senden, im Sinne des Mottos „Health in all policies“.