Experteninterview zur Mundgesundheit in der Pflege

Von Prof. Dr. Ina Nitschke

„Ich möchte alle Pflegenden ermutigen, Fragen zu stellen“

Eine sorgfältige Mundhygiene wirkt sich positiv auf die Lebensqualität und allgemeine Gesundheit von Menschen mit Pflegebedarf aus. Prof. Dr. Ina Nitschke, Spezialistin für Seniorenzahnmedizin, erklärt, wie sich die Mundgesundheit von Pflegebedürftigen erhalten und stärken lässt – und wie sehr Angehörige oft mit dem Pflegealltag zu kämpfen haben. 

Prof. Dr. Nitschke, warum ist regelmäßige Mundhygiene in der Pflege wichtig?

Ina Nitschke: Wenn Zähne und Mund nicht regelmäßig gereinigt werden, vermehren sich dort schädliche Bakterien. Es bildet sich ein Biofilm auf den Zähnen, der Karies oder Zahnfleischentzündungen verursachen kann. Letztere führen zu Blutungen am Zahnfleisch, die Zähne können locker werden und, wenn gar nichts passiert, auch verloren gehen. Deshalb gilt auch im Alter: Zwei Mal täglich Zähne putzen!

Was sind Anzeichen dafür, dass ein Mensch mit Pflegebedarf Unterstützung bei der Mundhygiene braucht?

Ein starker Hinweis ist Mundgeruch. Weitere Anzeichen sind Rötungen oder Blutungen im Mund oder dass der Mensch bestimmte Nahrungsmittel verweigert. Das deutet auf Schmerzen hin. 

Was gehört alles zur Mundhygiene bei Menschen mit Pflegebedarf? Welche Hilfsmittel braucht man?

In der Regel benutzen wir wie bei jedem Patienten Zahnbürste und Zahnpasta. Die Zahnpasta sollte fluoridiert sein. Auch eine hochfluoridhaltige Zahnpasta kann gut sein, sie sollte aber nur in Absprache mit dem Zahnarzt verwendet werden. Es kann empfehlenswert sein, von einer normalen Handzahnbürste auf eine Dreikopfzahnbürste umzusteigen. Auch hier kommt die Empfehlung durch den Zahnarzt sowie die Instruktion, wie diese Dreikopfzahnbürste anzuwenden ist. Ich möchte Angehörige dazu ermutigen, ihren Zahnarzt zu fragen, wie sie die tägliche Mundhygiene bei dem Pflegebedürftigen gut durchführen können. Im Team des Zahnarztes sind oft zahnmedizinische Prophylaxeassistentinnen und Dentalhygienikerinnen, die das mit den Angehörigen, auch direkt gemeinsam bei dem Pflegebedürftigen, üben können.

Muss man Mundhygiene auch betreiben, wenn gar keine Zähne da sind?

Unbedingt. Auch dann ist die Mundhöhle, insbesondere Mundschleimhaut und Zunge, weiterhin zu pflegen. Für die Zunge gibt es spezielle Reinigungsbürsten oder -schaber. Auch Spüllösungen helfen, Bakterien zu reduzieren. Meistens haben zahnlose Patienten eine Prothese. Sie sollte mit einer Zahnprothesen-Bürste gereinigt werden, die etwas härtere und längere Borsten hat. Wenn der Pflegebedürftige Zahnbürste oder Zungenschaber nicht mehr in seinen Mund lässt, kann es helfen, den Mund vorsichtig mit einer Mullbinde oder speziellen Reinigungsmitteln auszuwischen.

Kann man Pflegebedürftige mit kleinen Tricks für die Mundhygiene aktivieren?  

Es ist manchmal nicht so einfach, Pflegebedürftige dazu zu motivieren, die Mundhygiene zu ermöglichen. Erst einmal sollte immer versucht werden, dass der Pflegebedürftige sich die Zähne selber putzt. Angehörige oder Pflegekräfte sollten anschließend nachputzen. Der richtige Zeitpunkt spielt eine Rolle. Wenn der Pflegebedürftige gerade sein Lieblings-Fernsehprogramm sieht, wird er sich nicht gerne unterbrechen lassen. Ein weiterer Tipp: Die Zahnpasta sollte schmecken. Manche Produkte sind sehr scharf, das mag nicht jeder. Dann hilft es manchmal, auf eine andere zum Beispiel eine Kinderzahnpasta auszuweichen.

Wie erkennt man bei Pflegebedürftigen, die sich nicht mehr mitteilen können, beispielsweise Zahnschmerzen?

Das gelingt, wenn die Pflegekräfte bzw. die Angehörigen den Patienten ganz genau beobachten und auf Veränderungen achten. Wenn jemand zum Beispiel jeden Tag gut gegessen hat, jetzt aber das Essen nicht mehr aufnimmt oder den Kopf einfach zur Seite dreht, kann es sein, dass ihm das Kauen Schwierigkeiten bereitet, dass er Beschwerden hat oder sogar Schmerzen. Auch ein aggressives Verhalten kann darauf hinweisen, dass es hier Probleme gibt. Wenn das der Fall ist, sollte der Zahnarzt zu Rate gezogen werden. Besonders gut wäre, wenn der Hauszahnarzt kommen würde, da er die Mundsituation kennt und vielleicht eine Idee hat, welcher Zahn die Beschwerden auslösen könnte.

Wie verhält es sich mit der Mundgesundheit bei Demenzerkrankungen?

Das Thema Demenz ist sehr vielschichtig. Wir haben zum einen die Menschen mit Demenz und zum anderen die Angehörigen, das Pflegepersonal sowie die Ärzte und Zahnärzte, die gut zusammenarbeiten sollten, damit die Mundgesundheit optimal gefördert wird. Wenn der Mensch mit Demenz zuhause gepflegt wird, ist es wichtig, dass die Angehörigen bei der Durchführung der Mundhygiene gut vom Zahnarzt und seinem Team angeleitet werden. Auch Pflegekräfte sollten hier eine gute Anleitung bekommen. Eine besondere Herausforderung bei der Mundhygiene von Menschen mit Demenz ist, dass sie – abhängig von ihrem Stadium – nicht immer kooperativ sind. Damit die Instruktion der Angehörigen gelingt, müssen sich Zahnärzte und ihr Team auf Menschen mit Demenz einstellen. Es gibt Spezialisten, die das bereits getan haben, und hier gute Unterstützung leisten können. Über Ansprechpartner, aber auch spezialisierte Zahnärzte und Fortbildungsangebote für Pflegeeinrichtungen in diesem Bereich informiert die Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ) auf ihrer Homepage https://dgaz.org. Die DGAZ hat für jedes Bundesland einen Beauftragten, der lokal Fortbildungsveranstaltungen für Pflegekräfte in den Einrichtungen organisieren kann.

Wie finde ich Zahnärzte, die auf Menschen mit Pflegebedarf eingestellt sind? 

Das ist online auf den Seiten der Deutschen Gesellschaft für Zahnmedizin (DGAZ) möglich. Dort sind Zahnärzte angegeben, die sich besonders diesem Feld widmen. Zudem können die Landesbeauftragten der DGAZ eine Empfehlung geben. Darüber hinaus haben viele Landeszahnärztekammern Verzeichnisse mit Zahnärzten, deren Praxen gut zu erreichen oder baulich besonders auf Patienten mit Pflegebedarf ausgerichtet sind. 

Wie können Pflegeeinrichtungen die Mundhygiene bei Pflegebedürftigen organisieren?

Wenn der Leiter der Einrichtung und die Pflegedienstleitung sich einig sind, das Thema Mundgesundheit in ihrer Einrichtung zu beleben, gilt es einen Zahnarzt zu finden, der sich in der zahnmedizinischen Betreuung von Menschen mit Pflegebedarf auskennt. Dabei kann die DGAZ oft helfen, da sie die Spezialisten für Seniorenzahnmedizin ausbildet. Ist eine Zahnärztin oder ein Zahnarzt gefunden, sollten Absprachen getroffen werden, welches zahnmedizinische Versorgungskonzept inkl. Mundhygieneunterweisungen gemeinsam umgesetzt werden soll. Eine Möglichkeit sind ein halbjährliches Screening in der Einrichtung und die Behandlung in der Praxis, eine weitere ist die Behandlung in der Senioreneinrichtung, oder – was häufig durchgeführt wird – beide Orte werden zur Behandlung genutzt. Dann wird langsam die Zusammenarbeit gestartet und das zahnmedizinische Betreuungskonzept Schritt für Schritt aufgebaut. Wichtig ist dabei, dass jeder Bewohner für sich selber entscheiden kann, ob er an einer durch die Pflegeeinrichtung organisierten zahnmedizinischen Betreuung teilnehmen möchte oder ob ihn sein Hauszahnarzt betreuen sollte. Dies wäre dann gesondert mit dem „alten“ Zahnarzt abzusprechen. Ist ein Betreuungszahnarzt im Hause, wird dieser auch die Bewohner, das Pflegepersonal und die Angehörigen in der Durchführung der täglichen Mundhygiene unterstützen, durch Vorträge und Instruktionen zur Mundgesundheit.

Sollten bei intensivem Pflegebedarf Zähne gezogen werden? 

Grundsätzlich wollen Zahnärzte Zähne erhalten. Manchmal sind die Erkrankungen der Zähne aber so stark, dass sie nicht mehr erhaltungsfähig sind. Wir arbeiten bei Menschen mit Pflegebedarf teilweise unter sehr einfachen Verhältnissen in den Einrichtungen. Das Pflegepersonal sollte die Menschen auch im Mundbereich sehr aufmerksam betreuen. Da kann es vorkommen, dass wir hinten sitzende Zähne entfernen müssen, weil sie nicht mehr von den Pflegekräften zu pflegen sind, zum Beispiel wenn der Pflegebedürftige eine hohe Aggressivität beim Putzen zeigt. Dann kann die Entscheidung sein, die Zähne zu extrahieren. Wichtig dabei ist, dass zwischen dem Patienten bzw. dem Vertreter des Patienten, also in der Regel den Angehörigen, und dem Zahnarzt eine gute Absprache stattfindet. Es müssen alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen werden, die Zähne zu erhalten. Nach diesem Aufklärungsgespräch treffen die Patienten bzw. deren Angehörige und der Zahnarzt gemeinsam eine Entscheidung.

Wie schwierig sind diese Gespräche für Angehörige?

Es kann sehr schwierig für sie sein, die Entscheidungen der Zahnärzte, die im ersten Augenblick sehr hart klingen, zu akzeptieren oder als guten Hinweis wahrzunehmen. Leider ist es eben manchmal notwendig, dass wir uns von Zähnen oder Konstruktionen trennen, die jahrzehntelang im Munde des Patienten waren und an die der Angehörige sich sehr gewöhnt hat. Das ist oft bei Ehepaaren der Fall, wo ein Partner an Demenz erkrankt ist. Ich hatte einmal eine Patientin, da wollte der Ehemann nicht, dass bei seiner Frau alle Zähne extrahiert werden. Er sagte, sie habe immer sehr auf ihr Aussehen geachtet und würde das furchtbar finden. Und auch er wollte sie natürlich so sehen wie eh und je. Das sind kleine Tragödien, die in der Pflege alltäglich sind. Sich in diesem Spannungsfeld zwischen Emotion und zahnmedizinischer Indikation zu bewegen, ist eine große Herausforderung.

Wie sollten die Beteiligten mit dieser Situation umgehen?

Es ist ganz wichtig, dass die Angehörigen dem Zahnarzt mitteilen, welche Sorgen sie haben oder was sie nicht verstehen in diesem Prozess der Entscheidungsfindung. Hier ist ein offenes Gespräch mit allen Ängsten und Bedenken hilfreich. Die Zahnärzte, die in der Seniorenmedizin tätig sind, wissen um die Nöte der Angehörigen und sind für solche Gespräche offen.

Über Prof. Dr. Ina Nitschke

Frau Prof. Dr. med. dent. habil. Ina Nitschke schloss 1980 ihre Zahntechniker-Ausbildung als Gesellin ab und studierte dann Zahnmedizin. 1983 erhielt sie die Approbation als Zahnärztin, 1984 promovierte sie zum Dr.med. dent. und arbeitete in einer Berliner Zahnarztpraxis. Von 1984 bis 1999 war sie in Berlin an der Universität in der Abteilung für Zahnärztliche Prothetik angestellt, die sie 1999 als zukünftige Leiterin des Bereiches Seniorenzahnmedizin der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoff¬kunde, Universität Leipzig, verließ. Dort habilitierte sie 2005, erhielt die Lehrbefugnis und 2009 eine außerplanmäßige Professur. 2004 beendete sie ihr zweites Studium mit dem Master of Public Health, Freie Universität Berlin. Seit 2006 ist neben ihrer Tätigkeit an der Universität Leipzig auch an der Universität Zürich im Bereich der Allgemein-, Behinderten- und Seniorenzahnmedizin tätig. Sie ist Gründungsmitglied des Arbeitskreises für Gerostomatologie (Gründung 1990), der heute als Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin e.V. bekannt ist. Sie steht dieser Gesellschaft seit 2000 als Präsidentin vor.