Experteninterview zur Mundgesundheit bei Handicap

Von Dr. Imke Kaschke

„Früh aktivieren und dann dranbleiben“

Es gibt viele Möglichkeiten, Menschen mit Behinderung für die Mundhygiene zu motivieren. Dr. Imke Kaschke erklärt, welche Informationen und Hilfsmittel dabei helfen und wie Angehörige, Zahnarztpraxen und Wohneinrichtungen die Mundgesundheit bei Handicap unterstützen können.

Dr. Kaschke, haben Menschen mit Behinderung ein erhöhtes Risiko für orale Erkrankungen?

Imke Kaschke: Ja. Zieht man einen Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung, auch bei gleicher Lebensaltersgruppe, kann man feststellen, dass Menschen mit zahnmedizinisch relevanter Behinderung einen höheren Anteil fehlender Zähne haben. Auch leiden sie häufiger an Gingivitis, also Entzündungen des Zahnfleischs. Diese wird von Zahnbelag verursacht. 

Wann ist eine Behinderung zahnmedizinisch relevant?

Wenn sie dazu führt, dass ein Mensch nicht in der Lage ist, seine Mundhygiene so durchzuführen wie es erforderlich ist oder wo Behandlungsmaßnahmen erschwert sind. 

Welche Rolle spielen die Eltern für die Mundgesundheit bei Menschen mit Behinderung?

Eine ganz zentrale. Eltern sollten ihr Kind bei der Mundhygiene anleiten und vom ersten Zahn an regelmäßig den Zahnarzt aufsuchen, Maßnahmen der Prävention wahrnehmen und das dem Kind als Regelmäßigkeit für sein Leben mitgeben. Es ist ganz wichtig, dass der erste Kontakt zum Zahnarzt keine Schmerzbehandlung ist, sondern angstfrei und für alle Personen positiv verläuft. 

Was deutet darauf hin, dass ein Mensch mit Behinderung Unterstützung bei der Mundhygiene braucht?

Wenn man feststellt, dass er oder sie regelmäßig Zahnbeläge oder Mundgeruch hat, ist davon auszugehen, dass Unterstützung nötig ist. Der Bedarf kann sehr unterschiedlich sein und von rein verbaler Information bis hin zur kompletten Übernahme der Zahn- und Mundhygiene gehen. 

Wie informiert man Menschen mit Behinderung am besten über Mundgesundheit?

Zunächst einmal muss man sich bewusst machen, dass auch Menschen mit einer Behinderung, insbesondere mit geistiger Behinderung, lernfähig sind. Deshalb ist es besonders wichtig frühzeitig anzufangen, sie für die Mundhygiene fit zu machen und dann dranzubleiben. Dafür brauchen sie Informationen, die sie erreichen. Das können geschriebene Informationen in Leichter Sprache sein oder visuelle Anleitungen. Letztendlich sollte alles darauf abzielen, Gesundheitskompetenzen bei Menschen mit Behinderung zu steigern.

Mit welchen Hilfsmitteln kann man die Mundgesundheit bei Handicap fördern?

Es hilft schon, eine Spezial-Zahnbürste auszuwählen und dem Menschen mit Behinderung eine adäquate Putztechnik zu vermitteln. Die Rotationstechnik etwa ist relativ einfach erlernbar. Dabei muss man vermitteln, dass der Zahn aus vielen Flächen besteht und dass nicht nur die Außen- sondern auch die Innenflächen besonders wichtig sind. Bei Menschen mit eingeschränkter Motorik können auch bestimmte Griffhilfen zum Einsatz kommen, damit die Zahnbürste besser gehalten werden kann.

Haben Sie Tipps für Angehörige und Pflegepersonal?

Vor allen Dingen ist es wichtig, auch wenn bei Menschen mit Behinderung die Zahnpflege durch andere Personen übernommen wird, dass immer eine Selbstkontrolle möglich ist. Die Zahnpflege sollte immer vor einem Spiegel erfolgen, so dass derjenige, der bei der Mundhygiene unterstützt wird oder wo die Mundhygiene komplett durch andere übernommen wird, eine Selbstkontrolle hat, was in diesem Moment mit ihm passiert. Außerdem sollte die Mundhygiene in einer gewohnten Atmosphäre, in einer vertrauten Umgebung erfolgen und am besten zu einem Zeitpunkt, wo nicht gerade der Lieblingsfilm im Fernsehen läuft, sondern wo Zeit und Muße für die Zahnpflege da sind. Oft lässt sich die Dauer der Zahnpflege durch das Spielen eines Lieblingslieds verlängern. Man kann eine Zahnputzuhr oder einen Zeitstopper einsetzen. Natürlich ist auch der Geschmack der Zahnpasta ein Faktor. Eine Selbstaktivierung kann man erreichen, indem man eine geeignete Zahnbürste auswählt, zum Beispiel eine dreiköpfige Zahnbürste, mit der er alle Zahnflächen im Mund erreicht werden.

Wie können Angehörige und Unterstützungspersonen den Zahnarztbesuch vorbereiten?

Das funktioniert gut mithilfe von Bildmaterial, das bei einem früheren Besuch in der Zahnarztpraxis aufgenommen wurde. Man sollte den Termin explizit ankündigen und sagen: „Morgen gehen wir zum Zahnarzt.“ Man sollte dabei vermeiden zu sagen, dass nicht gebohrt wird. Denn wenn das doch nötig sein sollte, muss der Zahnarzt Wege finden, das zu begründen. Ganz wichtig ist, möglichst alle Unterlagen, die über den Patienten zur Verfügung stehen, zur zahnärztlichen Untersuchung mitzubringen. Das verkürzt das gesamte Prozedere. Oftmals müssen die Kollegen sonst mit den behandelnden Allgemeinmedizinern, Neurologen oder weiteren behandelnden Ärzten Kontakt aufnehmen. 

Wie können sich Zahnarztpraxen auf Menschen mit Behinderung einstellen?

Das ganze Team sollte gemeinsam auftreten, damit sich alle gegenseitig kennenlernen können. Hilfreich sind barrierefreie Informationen in Leichter Sprache oder entsprechende Praxisbeschilderungen. Bei blinden Patienten kann der Einsatz von Anrufbeantwortern und gesprochenen Informationen helfen. Für gehörlose Patienten stellt die Kommunikation über das Internet oder ein Fax, etwa zur Terminvereinbarung, einen Barriereabbau dar. Man kann zudem bestimmte Sammelsprechzeiten für Wohngruppen anbieten. Es hilft auch, sich ein bisschen auf die Vorlieben der Patienten mit Behinderung einzustellen und vielleicht mit Musik zu behandeln oder bei Menschen mit einer autistischen Behinderung auf eine sehr reizfreie Umgebung zu achten. In allen Fällen ist Folgendes ganz wichtig: Man braucht bei Menschen mit Behinderung, die oftmals Angst vor der Behandlung haben oder auch Angst, den Zahnarzt mit ihrer Behinderung zu konfrontieren, Geduld und Ruhe. Hektik und Stress gehören nicht dazu. Oftmals hängt der Behandlungserfolg nicht vom Schweregrad der Behinderung ab, sondern vom zwischenmenschlichen Verhältnis. Wenn man über viele Jahre Menschen mit Behinderung betreut, wird man feststellen, dass sich sehr viele zum Schluss in der Behandlung nur noch wenig von anderen Patienten unterscheiden. 

Welche Fortbildungsmöglichkeiten gibt es für Zahnarztpraxen?

Zahnarztpraxen, die sich in diesem Bereich weiterbilden wollen, können Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderen medizinischen Unterstützungsbedarf werden oder deren Fortbildungsangebote in der Jahrestagung diesen September in Anspruch nehmen.

Wie können Wohneinrichtungen die Mundhygiene organisieren?

Menschen mit Behinderung kann man für die Mundhygiene aktivieren, indem man gewohnte Zahnputz-Rituale schafft oder indem man bestimmte Anreize setzt wie Zahnputzuhren oder Lieblingslieder. Als besonders erfolgreich hat sich ein niedrigschwelliger Ansatz erwiesen. Dabei setzt man Menschen mit Behinderung, die in einer Wohngruppe wohnen und sich besonders für die Mundhygiene interessieren, als Multiplikatoren ein. In dieser Rolle geben sie ihr Wissen zur Umsetzung der Zahn- und Mundhygiene an ihre Mitbewohner weiter. 

Wo können sich Pfleger und Wohneinrichtungen informieren?

Sie können mit den Zahnärztekammern Kontakt aufnehmen, um zu erfragen, ob es solche Angebote in Wohneinrichtungen in ihrer Nähe gibt. Das ist zum Beispiel seit vielen Jahren in Berlin der Fall. Sie finden Angebote aber auch über die Landesverbände der Sportorganisation Special Olympics. Dort läuft in vielen Bereichen auch ein Angebot, welches aufsuchend in diesem Bereich arbeitet.

Wie findet man einen Zahnarzt, der auf die Behandlung von Menschen mit Behinderung spezialisiert ist?

Viele Landeszahnärztekammern haben Praxisführer, wo entsprechende Kollegen aufgelistet sind, wo zum Teil auch aufgelistet ist, ob sie Wohneinrichtungen aufsuchen oder ob die Behandlung nur in der Praxis erfolgen kann und ob Behandlungen auch in Narkose möglich sind. 

Wie kann man die Zahngesundheit von Menschen mit Behinderung außerdem fördern?

Das ist im weitesten Sinne eine gesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen an den Barrieren im Kopf arbeiten. Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen ist in Deutschland nach meinen Erfahrungen und nach vielen Gesprächen immer noch schwierig. Es ist eben etwas ganz Anderes, eine geistige Behinderung zu haben oder mit einem Rollstuhl und einer spastischen Behinderung unterwegs zu sein, als an Bluthochdruck oder Diabetes zu leiden. Ich glaube, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern viel Nachholbedarf in der gesellschaftlichen Wahrnehmung hat. Zum Beispiel in Schweden ist das Anderssein positiver besetzt. Fest steht: Menschen mit Behinderungen wollen genauso leben wie alle anderen und sie haben ein genau gleiches Recht auf gleiche Lebensverhältnisse und ein gleichberechtigtes Miteinander.

Vita

Dr. Imke Kaschke studierte von 1980 bis 1985 Zahnmedizin an der Charité Berlin und schloss ihr Studium im Jahr 1988 mit der Promotion ab. Ab 1985 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und ab 1997 Oberärztin der Abteilung Zahnerhaltung am Zentrum für Zahnmedizin der Charité. Von 1992 bis 2008 leitete sie dort die Zahnärztliche Sondersprechstunde für Patienten mit Behinderungen. Im Jahr 2009 schloss sie ihr Masterstudium Public Health an der FU Berlin erfolgreich ab. Seit 2009 leitet sie den Bereich Medizin und Gesundheit der Sportorganisation Special Olympics Deutschland und seit 2011 die durch das Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekte „Selbstbestimmt gesünder I-III“ sowie „Gesund durchs Leben“. Imke Kaschke ist zweite Vorsitzende der AG Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderem medizinischen Unterstützungsbedarf (AG ZMB) in der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.