Statement 20.09.2016
Von Prof. Dr. Stefan Zimmer, Universität Witten/Herdecke
Gesamter Audio Mitschnitt des Statements:
Das wissenschaftliche Fundament der modernen Zahnmedizin hat in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich an Stabilität zugenommen und es gibt kaum noch einen Bereich, der nicht erforscht ist. Trotzdem halten sich hartnäckig manche althergebrachten Mythen – und manchmal entwickeln sich auch neue. Eine Mythen- statt Fakten-basierte Zahnmedizin birgt das Risiko gesundheitlicher Nachteile oder sogar Schäden. Deshalb sollen einige dieser Mythen hier enttarnt und durch Fakten ersetzt werden.
Mythos 1: Jeder sollte zweimal täglich zwei bis drei Minuten lang die Zähne putzen!
Zweimal täglich Zähneputzen, morgens nach dem Frühstück und abends vor dem Zubettgehen ist sicher eine vernünftige Empfehlung. Aber wie steht es mit der Putzdauer?
Interessanterweise lautete die Empfehlung in Deutschland früher drei Minuten – bis immer mehr elektrische Zahnbürsten mit Timer auf den Markt kamen, die auf zwei Minuten eingestellt waren. Zwei Minuten Zähneputzen war schon immer die Empfehlung in den USA, und da der wichtigste Markt für elektrische Zahnbürsten die USA sind, wurden auch bei uns nach und nach aus den drei Minuten zwei Minuten. Eine wissenschaftliche Grundlage gibt es für keine dieser beiden Empfehlungen. Eine Studie von Hawkins et al. hatte schon 1986 gezeigt, dass die „optimale“ Zahnputzzeit im statistischen Mittel bei 5,1 Minuten lag mit einer großen Streubreite (1). Übrigens war selbst nach dieser Zeit keineswegs Plaquefreiheit erreicht, es brachte aber auch keine Verbesserung, wenn noch länger geputzt wurde. Richtig ist, dass jeder seine für ihn optimale Putzzeit ermitteln muss und dass das im Durchschnitt mehr als drei Minuten sind. Die individuelle Putzzeit ermitteln kann man selbst, indem man sich die Zahnbeläge mit einer Färbetablette anfärbt und dann die Zeit stoppt, die man braucht, bis die Zähne komplett gereinigt sind. Dabei darf man nicht nur an die Reinigung der frei zugänglichen Flächen denken, sondern muss zusätzlich täglich einmal auch noch Hilfsmittel für die Pflege der Zahnzwischenräume benutzen.
Mythos 2: Jedes Kind kostet einen Zahn.
Hormonelle Veränderungen führen in der Schwangerschaft zu einer Lockerung des Bindegewebes. Davon betroffen ist auch der Zahnhalteapparat. Bakterien können in dieser Zeit leichter in das parodontale Gewebe eindringen, weshalb eine bestehende Parodontitis einen schnelleren Verlauf nimmt, was tatsächlich zum Zahnverlust führen kann. Aber nicht die Schwangerschaft ist die Ursache für die Parodontitis, sondern eine spezifische Plaque, Wenn diese während der Schwangerschaft durch gute Mundhygiene und regelmäßige professionelle Zahnreinigungen besonders gut kontrolliert wird, geht kein Zahn verloren. Also kostet nicht das Kind, sondern die Parodontitis-Plaque den Zahn.
Mythos 3: Karies ist bei Milchzähnen nicht so schlimm.
Der Mensch verfügt wie die meisten Säugetiere über zwei Dentitionen: das Milchgebiss und das bleibende Gebiss. Die ersten Zähne des Milchgebisses erscheinen mit etwa sechs Monaten in der Mundhöhle, die letzten gehen mit etwa elf Jahren verloren. Sie werden sukzessive durch die bleibenden Zähne ersetzt bzw. ergänzt. Also könnte man meinen, dass Milchzähne nicht so wichtig sind und dass es nicht so schlimm ist, wenn sie frühzeitig durch Karies verloren gehen. Das ist aber grundlegend falsch. In die Zeit der Milchzähne fallen die wichtigsten Entwicklungen des Kindes. Unter anderem lernt es sprechen, es wächst und entwickelt seine endgültige Gesichtsform. Wenn Milchzähne frühzeitig verloren gehen, können deshalb Sprachentwicklung und Gesichtswachstum behindert werden. Außerdem kann die psychische Entwicklung leiden, weil das Kind wegen seines Aussehens gehänselt wird. Es kann unter Zahnschmerzen leiden, die Ernährung kann nicht optimal erfolgen, und die bleibenden Zähne stellen sich an der falschen Stelle ein, weil ihnen die Milchzähne als Wegweiser fehlen. Eine Zahnfehlstellung, die später kieferorthopädisch korrigiert werden muss, könnte die Folge sein. Es gibt also viele gute Gründe, die Milchzähne ernst zu nehmen.
Mythos 4: Karies wird vererbt
Viele menschliche Eigenschaften, psychische wie physische, sind genetisch bestimmt. Deshalb glauben viele auch, dass Karies vererbt wird und dass man wenig dagegen tun kann. Vererbung spielt jedoch in Bezug auf Karies keine oder höchstens eine verschwindend geringe Rolle. „Vererbt“ werden vor allem ungesunde Verhaltensmuster, die zu Karies führen. Hier ist vor allem die ungesunde Ernährung mit hohem Zuckerkonsum zu nennen. Wenn die Eltern sich ungesund und zuckerreich ernähren, wird das Kind es kaum anders tun können und daher wird es ähnliche kariöse Schäden wie seine Eltern entwickeln. Deshalb sieht auf den ersten Blick nach Vererbung aus, was in Wirklichkeit keine ist.
Mythos 5: Karies ist ansteckend.
Häufig wird behauptet, Karies sei eine Infektionskrankheit, die dadurch verursacht werde, dass krankmachende Bakterien auf das Kind übertragen würden. Tatsächlich ist die Mundhöhle von Neugeborenen frei von diesen Bakterien und wird erst nach und nach durch soziale Kontakte bakteriell kolonisiert und zwar von bis zu 1.000 verschiedenen Keimspezies. Mit Karies wird nur etwa eine Handvoll assoziiert, und auch die gehören zur physiologischen Flora der Mundhöhle und sind mit Zahngesundheit durchaus vereinbar. Karies entsteht nicht durch diese Keime, sondern durch unsere zu zuckerhaltige Fehl-Ernährung, die bestimmte Bakterien überhand nehmen lässt. Die europäische Gesellschaft für Kariesforschung ORCA hat dies im letzten Jahr auch anerkannt und betrachtet Karies nicht mehr als Infektionskrankheit. Mit Blick auf die Infektions-Theorie wurde zuvor versucht, Karies durch Hemmung der Keimübertragung zu vermeiden. Teil dieser Empfehlungen war, Babybreis vor dem Füttern nicht mit dem gleichen Löffel abzuschmecken und herunter gefallene Schnuller nicht „sauber zu lecken“, bevor sie dem Kind zurückgegeben werden. Dabei wurde jedoch übersehen, dass dadurch nicht nur die Übertragung der wenigen mit Karies assoziierten Keime auf das Kind verhindert wurde, sondern die Übertragung vieler verschiedener Bakterienarten – und dass dadurch offenbar die Etablierung einer gesunden Mundflora, die auch für das Ausreifen des kindlichen Immunsystems wichtig ist, behindert wurde. In einer 2013 veröffentlichten Studie wurde untersucht, welche Auswirkungen die Praxis des Schnuller-Ableckens auf allergische Erkrankungen hat. Es wurde festgestellt, dass Kinder, deren Schnuller von ihren Eltern abgeleckt wurde, im Alter von 18 Monaten erheblich weniger allergische Erkrankungen aufwiesen als Kinder, bei denen das zum Zwecke der Kariesprävention nicht geschehen war. Im Einzelnen war das Risiko für die Entstehung von Asthma 8,3 mal so hoch, wenn der Schnuller nicht abgeleckt wurde, das Risiko für die Entwicklung von Ekzemen und allergischer Sensibilisierung war 2,7 mal so hoch. Die Autoren der Studie zogen die Schlussfolgerung, dass das Ablecken des Schnullers und die damit verbundene Keimübertragung das Immunsystem der Säuglinge stimuliert und somit das Risiko für die Entwicklung einer Allergie reduziert. (2)
Das waren nur einige von vielen Mythen, die es im Sinne der Gesunderhaltung von Zähnen und Zahnfleisch richtig zu stellen gilt. Am besten fragen Sie Ihren Zahnarzt und sein Prophylaxeteam. Sie können nicht nur Mythen durch Fakten ersetzen, sondern Ihnen auch Zahnpflegetipps geben, die auf Ihre individuellen Bedürfnisse und die Ihres Kindes abgestimmt sind.
Quellen:
- Hawkins BF, Kohout FJ, Lainson PA, Heckert A. Duration of toothbrushing for effective plaque control. Quintessence Int. 1986 Jun;17(6):361-5.
- Quelle: Hesselmar B, Sjöberg F, Saalman R, Åberg N, Adlerberth I, Wold AE. Pacifier Cleaning Practices and Risk of Allergy Development. Pediatrics 2013;131;e1829; DOI: 10.1542/peds.2012-3345.)