Statement 19.09.2014
Von Herrn Dr. Reinhard Schilke, Oberarzt am Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Medizinischen Hochschule Hannover
Gesamter Audio Mitschnitt des Statements:
Gesund beginnt im Mund - ein Herz für Zähne!
Besonders in den ersten Jahren nach dem Durchbruch der Zähne in den Mund sind diese besonders empfindlich. In dieser Zeit entwickelt sich Karies deutlich schneller als in späteren Lebensabschnitten. Daher brauchen Zähnen in dieser Phase besonders viel Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die gerade bei den Zähnen der ersten Dentition („Milchzähne“) nur die Eltern geben können. Bleiben die Zähne in dieser Zeit gesund, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sie im weiteren Leben des Kindes, Jugendlichen und später des Erwachsenen keine Karies bekommen. Damit nehmen Eltern eine Schlüsselrolle bei der Zahngesundheit ihrer Kinder ein. Mangelt es an Wissen, Können oder Wollen der Eltern, die erforderlichen Maßnahmen für die Gesunderhaltung der Zähne aufzuwenden, nehmen gerade in den ersten Lebensjahren die Zähne sehr schnell Schaden.
Erfreulicherweise haben die meisten Eltern ein Herz für Zähne. Heute haben viele Vorschul-, Schulkinder und Jugendliche bereits karies- und häufig auch füllungsfreie Gebisse. Doch wie bei den älteren Patientengruppen ist auch bei den Kindern eine starke Polarisierung (= eine deutliche Schieflage der Kariesverteilung) des Kariesbefalls festzustellen. Bei den 12-Jährigen haben 10 % der Jugendlichen etwa 60 % aller kariös erkrankten Zähne. Bei den jüngeren Kindern zeigen sogar nur etwa 2 % 52 % des Kariesbefalls.
Die Untersuchungen zeigen jedoch auch, dass die soziale Schicht, der Bildungsgrad der Eltern und die Herkunft das Auftreten von Karies in einem großen Ausmaß beeinflussen. Mit besserem Sozialstatus der Eltern sinkt das Kariesrisiko und es steigen der Sanierungsgrad und die Kariesfreiheit der Kinder. Regionale deutsche Studien zur frühkindlichen Karies aus den Jahren 1997 bis 2011 zeigen eine Ausbreitung zwischen – regional unterschiedlich hoch – 7,3 und 20,3 %. Der überwiegende Anteil der betroffenen Kinder weist dabei die typische Verteilung der kariösen Zähne einer Saugflaschen-Karies auf. Eine Untersuchung aus Hamburg fand bei 15 % der ein- bis zweijährigen Kinder bereits Anzeichen der Saugflaschen-Karies. Dies unterstreicht die Relevanz von falschen Ernährungs-Gewohnheiten auf die Kariesentstehung. Zur Prävention der Saugflaschen-Karies sollte Folgendes beachtet werden:
- Saugflasche nur zur Nahrungsaufnahme geben
- Saugflasche nie nachts geben
- Beginn der Entwöhnung ab dem 9. Lebensmonat
- Saugflaschengabe mit dem 1. Geburtstag beenden
Die Zähne der ersten Dentition weisen wichtige Funktionen auf und sind weit mehr als temporäre Platzhalter der bleibenden Zähne. Neben der naheliegenden Funktion beim Kauen der Nahrung dienen sie der physiologischen und der neuromotorischen Entwicklung. Tiefe kariöse Läsionen bei Zähnen der ersten Dentition sind genauso schmerzhaft wie bei Zähnen der zweiten Dentition.
Entzündungen an den Milchzähnen können zu Fehlbildungen der nachfolgenden Zähne führen. Die von kariösen Zähnen verursachten Schmerzen und Schwierigkeiten beim Essen können weitreichende psychische und somatische Folgen nach sich ziehen, von reduziertem Körperwachstum über Sprachentwicklungsprobleme bis zu Schlafstörungen und verminderter Lernfähigkeit. Nicht zuletzt ist bei schadhaften oder fehlenden Zähnen die Ästhetik gestört, was zu einer sozialen Ausgrenzung führen kann. Außerdem entwickeln Kinder mit frühkindlicher Karies auch im Gebiss der zweiten Dentition häufiger Karies. Bei vorzeitigem Zahnverlust verändert sich der Kieferknochen. Die nachfolgenden Zähne brechen nicht mehr innerhalb ihres physiologisch festgelegten Zeitraums durch oder finden nicht mehr ausreichenden Platz innerhalb des Zahnbogens. Es wird postuliert, dass ein großer Anteil der später behandlungsbedürftigen Zahn- und Kieferfehlstellungen vermeidbar wäre, wenn die Zähne der ersten Dentition gesund bleiben oder einer frühzeitigen zahnärztlichen Behandlung zugeführt werden würden.
Karies ist keine Erkrankung, die akut entsteht. Aufgrund der chronischen Einwirkungen ungünstiger Faktoren (fehlende oder unzureichende Hygienemaßnahmen, inadäquate Ernährung, fehlende Gesundheitsfürsorge oder Inanspruchnahme von Gesundheitsangeboten) auf den Zahn erfüllt das Vorhandensein von Karies wesentliche Charakteristika der Definition von Vernachlässigung. Ein Sonderfall sind Kinder mit Migrationshintergrund aus Kulturen, in denen beispielsweise Zucker eine große Rolle spielt bzw. Mundhygiene anderen Regeln folgt als hierzulande.
Jedoch sollte nicht jede frühkindliche Karies per se als Kindeswohlgefährdung angesehen werden. Vernachlässigung hat viele Gesichter – deshalb muss man genauer hinsehen um zu erkennen, wann für das Kind gute Chancen auf eine künftige Verbesserung der Mundgesundheitspflege bestehen und wann von einer Kindeswohlgefährdung ausgegangen muss.
Chancen bestehen immer dann, wenn die Vernachlässigung auf Unwissen oder falschem Informationstand der Eltern beruht. Beispiele:
- Mehr als 80 % der Deutschen sind der Ansicht, dass die Zahnpflege bei Kindern erst nach dem zweiten Lebensjahr oder später beginnen solle. Dies ergab eine Emros-Umfrage, die im Jahr 2008 im Auftrag der Initiative proDente veröffentlicht wurde.
Hingegen ist es wichtig, dass Eltern den Zahn bzw. die Zähne bereits ab dem Durchbruch putzen. Insbesondere das abendliche Reinigen vor dem Schlafengehen ist hier besonders wichtig. In den ersten zwei Lebensjahren sollten sie dabei einmal täglich einen dünnen Film fluoridhaltiger Kinderzahnpaste auf die Zahnbürste geben. Ab dem 2. Geburtstag sollte zweimal täglich eine etwa erbsengroße Menge fluoridhaltiger Kinderzahnpaste verwendet werden. In dieser Zeit kann damit begonnen werden, das Kind an eine selbstständige Zahnpflege heranzuführen.
- Manche Eltern gehen davon aus, dass ihr Kleinkind sich bereits selbst die Zähne putzt, weil es mit der Zahnbürste im Bad hantiert und im Mund herumspielt. Korrektes Zähneputzen erfordert aber ein systematisches Vorgehen ebenso wie feinmotorische, koordinierte Bewegungen. Aufgrund der motorischen Entwicklung werden die notwendigen Bewegungsfähigkeiten für die unterschiedlichen Zahnflächen sukzessive erworben. Im Allgemeinen entwickelt sich die Motorik wie folgt: Dreijährige malen aus dem ganzen Körper heraus. Sie sind in der Lage, geradlinige Bewegungen durchzuführen.
Demnach können sie lediglich ein Hin- und Herbewegen der Zahnbürste auf den Kauflächen durchführen. Drei- bis Vierjährige weisen bereits eine lockere Schulter auf, der Arm ist zumeist noch relativ steif. Sie können in diesem Alter bereits große Kreise malen und erreichen damit die Außenflächen der Zähne. Vier- bis Fünfjährige zeigen schon mehr Mobilität der Arme. Sie malen aus dem Ellenbogen heraus, die Hand ist oftmals noch steif. Sie können dadurch bereits kleine Kreise malen und so die Außenflächen der Zähne noch besser erreichen. Frühestens bei Sechs- bis Siebenjährigen ist ein relativ lockeres Handgelenk zu beobachten, das eine Auswischbewegung ermöglicht. Die Innenflächen der Zähne können erst in diesem Alter erreicht werden. Neben diesen Einschränkungen aufgrund der grundsätzlichen Entwicklung der Motorik mangelt es bei den Kindern in diesem Alter verständlicherweise an einem systematischen Vorgehen bei der Zahnreinigung.
Besonders wichtig ist neben einer Wischbewegung, die mit den Borsten der Zahnbürste ausgeführt werden soll, auch die Konzentration auf den Randbereich der Zähne in der Nähe des Zahnfleischs, wo die Bakterienkonzentration am höchsten ist. Bis zum sicheren Beherrschen des Schreibens, das heißt, frühestens mit 8 Jahren, obliegt die abendliche Säuberung der Zähne demnach weiterhin den Eltern.
- Die Putzzeit wird in der Regel sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen subjektiv höher eingeschätzt als es objektiv gemessen der Fall ist. Durchschnittlich putzen 5-Jährige deutlich weniger als 60 Sekunden, dabei werden zu 80 % die Unterkiefer-Frontzähne geputzt. Die durchschnittliche Putzzeit von 11- bis 14-Jährigen beträgt 39 Sekunden und von Erwachsenen 60 Sekunden. Sehr hilfreich ist die Selbstkontrolle durch Anfärben der Zahnbeläge vor oder auch nach dem Putzen.
- Manche Eltern sehen es als nicht notwendig an, Zähne der ersten Dentition behandeln und möglichst erhalten zu lassen. Milchzähne fielen ja doch aus, da lohne sich eine Behandlung nicht, oder Milchzähne können nicht wehtun, hören Zahnärzte auch heute noch. Die Konsequenzen unbehandelter Karies sind diesen Eltern nicht bewusst. Sie haben eine durch Falschwissen, durch Desinteresse oder durch eigene negative Einstellungen zum Zahnarztbesuch verursachte, aus zahnmedizinischer Sicht falsche Grundeinstellung zur Kinderbehandlung. Beides führt zu einer späten Erstvorstellung des Kindes mit Schmerzen oder bereits sehr vielen kariösen Zähnen.
Derzeit setzen zahnärztliche Früherkennungsuntersuchungen in der Regel ab dem 30. Lebensmonat ein. Bei den jungen Patienten mit frühkindlicher Karies liegen dann bereits häufig zahlreiche kariöse Zähne vor. Aufgrund der Diskrepanz zwischen dem Alter dieser Patienten, das nur eine sehr eingeschränkte Behandlungsbereitschaft zulässt, und dem notwendigen Behandlungsumfang sind dann nicht selten umfangreiche Behandlungen unter Allgemeinanästhesie erforderlich. Unter Umständen müssen bereits Zähne entfernt werden. Wenn eine erste zahnärztliche Vorstellung des Kindes bereits kurz nach dem Durchbruch des ersten Zahnes stattfindet, am besten zwischen dem 6. und 9. Lebensmonat, wäre die Möglichkeit gegeben, Karies frühzeitig zu erkennen, schmerzfrei zu behandeln und im Anfangsstadium sogar auszuheilen. Insofern ist es aus Sicht der Kinder nur zu begrüßen, dass in einzelnen Bundesländern wie beispielsweise Berlin zahnärztliche Körperschaften mit ersten Krankenkassen Verträge schließen konnten, die eine frühe Untersuchung und Elternberatung auch schon ab dem 6. Lebensmonat als Kassenleistung aufnehmen. Für viele Familien, die die aktuellen Möglichkeiten der Frühvorsorge nicht kennen oder andere Erinnerungen haben, sind solche Angebote sehr hilfreich ebenso wie die Einführung von KinderZahnPässen, die in das weit verbreitete ärztliche „gelbe U-Heft“ mit integriert sind und damit Aufmerksamkeit wecken für die Vorsorge-Empfehlungen im Bereich der Mundgesundheit. Auch interdisziplinäre Konzepte wie die Zusammenarbeit der Bundeszahnärztekammer mit Hebammenverbänden haben gute Chancen, mehr Kindern als bisher ein zahngesundes Aufwachsen zu ermöglichen.
Erst wenn den Eltern der Befund ihres Kindes erläutert und ihnen erklärt wurde, welche Veränderungen erfolgen müssen, wenn ihnen Unterstützung angeboten wurde und sie diese nicht annehmen, sollte über Kindeswohlgefährdung nachgedacht werden. Denn unbehandelte kariöse Zähne können durchaus ein Indikator für weitere Vernachlässigungen des Kindes sein.
International gibt es in der zahnmedizinischen Literatur verhältnismäßig wenige Daten zur Kariesprävalenz bei vernachlässigten oder misshandelten Kindern. Von insgesamt sieben publizierten Studien zeigen sechs, dass diese Kinder bis zu achtmal häufiger unbehandelte kariöse Zähne haben als altersentsprechende Kinder. Das Risiko für weitere kariöse Zähne steigt mit zunehmendem Alter der Kinder an. Auch in Deutschland sieht die Situation ähnlich aus: Vernachlässigte oder misshandelte Kinder weisen fünfmal häufiger schwere frühkindliche Karies auf. Zudem ist die Anzahl der Zähne mit Karies oder kariesbedingten Folgen (Füllungen oder Extraktionen) signifikant höher als bei altersentsprechenden Kindern, die nicht durch Jugendämter betreut werden. In Österreich gab es bereits eine Verurteilung von Eltern, weil ihre vierjährige Tochter unter frühkindlicher Karies litt.
Verschiedene Faktoren können das Risiko für Vernachlässigung erhöhen. Armut, Sucht, eine schwere psychische Erkrankung der Eltern, das jugendliche Alter der Mutter, mehrere zu versorgende Vorschulkinder, Partnerschaftsgewalt, ausgeprägte Ohnmachtsgefühle gegenüber dem Kind oder stattgehabte eigene Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungserfahrung der Eltern sind nur einige, die das Risiko zwischen drei- bis sechsfach steigern. In vielen Fällen liegt eine Überforderung der Eltern oder eines Elternteils vor. Dieses belegen Daten des Statistischen Bundesamtes und Befragungen von Jugendämtern. Diese Überforderung begünstigt die Entstehung von Gewalt gegenüber dem Kind, oder von Vernachlässigung. Letzteres ist in etwa der Hälfte der Fälle, in denen die Anrufung des Familiengerichts erforderlich war, das zentrale Gefährdungsmerkmal. Außerdem belegen die Daten, dass insbesondere kleine Kinder am gefährdesten sind. Jüngste Daten zeigen, dass im Jahr 2012 von 38 000 Verfahren, die zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch Jugendämter durchgeführt wurden, allein 9 % eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung bei unter Einjährigen zeigten. 79 % wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf. Mehr Kinder fielen 2012 in keiner anderen Altersgruppe Kindeswohlgefährdungen zum Opfer.
Aber auch andere, noch häufig anzutreffende ungünstige Faktoren für eine gesunde Zahn- und Kieferentwicklung sollten beachtet werden. Bis zum 2. Geburtstag sollte das Lutschen (an Fingern) oder das Nuckeln (am Schnuller oder anderen Gegenständen) abgestellt werden. Dadurch lassen sich in vielen Fällen ein frontoffener Biss und eine Rücklage des Unterkiefers vermeiden.
Der Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das erfordert auch, dass Instanzen und Organisationen, die mit vernachlässigten Kindern in Berührung kommen, zusammenarbeiten und ein Netz knüpfen müssen, dass diesen Kindern Sicherheit und Hilfe anbietet, wenn ihre Eltern für sie nicht sorgen können oder wollen. Wir wünschen uns zum Wohl der Kinder und ihrer Zukunft, dass wir noch weit mehr Eltern erreichen als bisher. Leider sehen Zahnärzte kleine Kinder derzeit nur selten zu einem Zeitpunkt, an dem präventiv gehandelt oder bereits vorhandene Karies in einem Frühstadium therapiert werden könnte. Es wäre daher wünschenswert, wenn Zahnarztbesuche ab dem Durchbruch des ersten Zahnes fest etabliert werden könnten. So könnten fehlendes Wissen oder Können der Eltern aufgefangen werden. Wir haben ein Herz für Zähne und wünschen uns Eltern, die wir für die Gesundheit ihres Kindes begeistern können. Denn „Gesundheit beginnt im Mund“ – so der traditionelle Slogan des Tages der Zahngesundheit. Werden Zähne und Kiefer vernachlässigt, entstehen Folgeschäden für die körperliche und seelische Entwicklung des Kindes.
Folgende Empfehlungen werden gegeben:
- ab dem 1. Zahn Zahnpflege durch die Eltern mit Zahnbürste und Zahnpasta
- Verwendung fluoridhaltiger Zahnpasta nach der Leitlinie „Fluoridierungsmaßnahmen“
- mindestens bis zum 8. Geburtstag (bis zum sicheren Beherrschen des Schreibens) abendliches Zähneputzen durch die Eltern
- niemals die Saugflasche über die Nacht geben
- spätestens am 1. Geburtstag Absetzen der Saugflasche
- ab der „normalen Ernährung“ maximal 4x täglich zucker- oder säurehaltige Zwischenmahlzeiten
- spätestens am 2. Geburtstag Absetzen des Beruhigungssaugers oder des Lutschens
- zwischen dem 6. und dem 9. Lebensmonat erste Vorstellung bei Ihrem Zahnarzt oder in einer Kinderzahnarztpraxis, anschließend regelmäßig 2x im Jahr Kontrollen