Statement Dr. Dietmar Oesterreich 2010
Tag der Zahngesundheit 2010: Gesund beginnt im Mund - Lachen ist gesund
Gesamter Audio Mitschnitt des Statements:
Statement von Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer
Sehr geehrte Damen und Herren,
der 20. Tag der Zahngesundheit ist für uns Anlass festzustellen, dass sich die Mundgesundheit der deutschen Bevölkerung innerhalb dieses Zeitraumes außerordentlich positiv entwickelt hat. Die Erfolge in der zahnmedizinischen Prävention sind wissenschaftlich belegt und gesundheitspolitisch anerkannt. Im gesundheitspolitischen Raum gelten die erreichten Erfolge in der Zahnmedizin mittlerweile als das Erfolgsmodell und Vorzeigeprojekt für die Prävention schlechthin.
Aus vielerlei Gründen in Deutschland später als im internationalen Raum, dafür umso erfolgreicher, hat die Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde ihre Wirksamkeit nachhaltig unter Beweis gestellt. Bevölkerungsrepräsentative sozial-epidemiologische Studien belegen nicht nur den deutlichen Kariesrückgang (caries decline) bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch den zunehmenden Zahnerhalt und das hohe Versorgungsniveau bei Erwachsenen und Senioren. Diese Erfolge haben natürlich zahlreiche Ursachen. Dabei möchte ich den viel zitierten Paradigmenwechsel hin zu einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde zuerst ansprechen. Deutlich befördert wurde dieser auch durch gesundheitspolitische Entscheidungen wie bspw. der Einführung der Gruppen- und Individualprophylaxe in der gesetzlichen Krankenversicherung zu Beginn der 90er Jahre. Generell hat sich die Bedeutung der Mundgesundheit als auch das Mundhygieneverhalten in der breiten Bevölkerung positiv entwickelt. Fluoride, insbesondere in Zahnpasten, haben für den Kariesrückgang eine herausragende Bedeutung.
Neue Ausrichtungen und Veränderungen bedürfen für die öffentliche Wahrnehmung immer wieder eines besonderen Anlasses. Der Tag der Zahngesundheit mit seiner Verstetigung und den vielfältigen kreativen Ideen über 20 Jahre besitzt hierbei einen zentralen Stellenwert. Deswegen ist es mir heute ein besonderes Bedürfnis, den Ideengebern, Schöpfern und allen Beteiligten sehr herzlich für Ihre vielfältigen Aktivitäten zum Tag der Zahngesundheit zu danken. Über Interessengegensätze hinweg ist es gelungen, unter einer einheitlichen Zielprojektion Wesentliches zur Verbesserung der Mundgesundheit unserer Bevölkerung beizutragen. Ich meine, Grund genug, am heutigen Tag zu lachen, um auf das aktuelle Motto Bezug zu nehmen, und seine Freude zum Ausdruck zu bringen.
Bei all diesen Erfolgen ist es allerdings notwendig, sich auch den ständig zunehmenden Herausforderungen und Veränderungen zuzuwenden. Dies dokumentiert auch der Tag der Zahngesundheit durch die jährlich veränderte thematische Zielausrichtung unserer Auftaktpressekonferenz. „Lachen ist gesund" heißt es in diesem Jahr, und wir werden zu diesem Aspekt noch Vertiefendes aus dem Bereich der Wissenschaft hören. Bei unserer Freude über die erreichten Erfolge wollen wir es aber nicht belassen, sondern uns bewusst der Kehrseite des Themas Lachen und Freude, den psychosomatischen Erkrankungen mit ihrer Bedeutung für die Mundgesundheit der Bevölkerung widmen. Unseren Blick also auf diejenigen Menschen richten, denen nicht wirklich zum Lachen zumute ist. Hier stellen sich den Zahnärzten wachsende Herausforderungen. Auch in diesem Zusammenhang gilt die Feststellung des Robert-Koch-Instituts im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zur Mundgesundheit aus dem Jahre 2009: „Mundgesundheit bezieht sich nicht nur allein auf die Zähne, sondern steht in enger Beziehung zur gesamtkörperlichen Gesundheit und zum Wohlbefinden". Dass Seele und Zähne eng zusammenhängen ist bekannt. Nicht ohne Grund heißt es bei Stress „Zähne zusammenbeißen". Man „zeigt seinem Gegner die Zähne", „beißt sich durch" oder „auf Granit". Manchmal „verbeißt man sich in einer Sache" oder nimmt „etwas zähneknirschend hin". Selbst „im Schlaf kauen viele an ihren Problemen" weiter.
Psychische und psychosomatische Beschwerden beeinflussen das körperliche Wohlbefinden. So sind Depressionen, Alltagsstress, Ärger im Beruf aber auch Schicksalsschläge wie Trennung und der Tod von Angehörigen häufig verantwortlich für die Angst vor der Behandlung oder eine unbefriedigende Zahnarzt-Patienten-Beziehung. Ja, sie können sogar die Therapie zum Scheitern bringen. Seelenkummer manifestiert sich aber auch direkt im Mundbereich: etwa mittels Prothesenunverträglichkeit, Zungenbrennen, Pressen und Knirschen, Zahnfehlbelastungen oder einer Überstrapazierung der Kaumuskeln, die sich durch einen verspannten Nacken bemerkbar machen.
Welche Bedeutung psychische Störungen für das Gesundheitswesen generell haben, kann an einigen Daten deutlich werden. Die Ausgaben für Krankengeld auf Grund psychischer Störungen liegen an zweiter Stelle nach den Muskel-Skeletterkrankungen. 16,8 Prozent der beruflichen Fehlzeiten waren im Jahre 2008 durch psychische Störungen bedingt. Psychische und Verhaltensstörungen sind die Krankheitsgruppe mit den dritthöchsten Kosten im Gesundheitswesen. Die Anzahl der Frühberentungen durch psychische Erkrankungen hat sich von 1995 bis 2003 verdoppelt. Sicherlich Fakten, die nicht zuletzt durch den tragischen Tod des Fußballtorwarts Encke eine ganz andere gesellschaftliche Beachtung erfahren.
Vor dem Hintergrund, dass davon ausgegangen werden muss, dass 25-35 Prozent der Patienten in allgemeinmedizinischen Praxen unter einer psychischen bzw. psychosomatischen Störung leiden, ergibt sich auch für die zahnärztliche Praxis die Konsequenz, dass
- 20 Prozent der Patienten in Zahnarztpraxen Beschwerden haben, bei deren Auslösung und Verlauf psycho-soziale Faktoren eine Rolle spielen oder
- 20 Prozent der Patienten mit Beschwerden beim Zahnarzt psychisch beeinträchtigt sind.
Im Zusammenhang mit der regelmäßigen und häufigen Inanspruchnahme zahnärztlicher Dienstleistungen (70 Prozent der Bevölkerung gehen einmal jährlich kontrollorientiert zum Zahnarzt) haben die Diagnostik und das bio-psycho-soziale Krankheitsverständnis für den Zahnarzt eine hohe Bedeutung. Gerade Krankheitsbilder, bei denen eine deutliche Diskrepanz zwischen Befund und Befinden des Patienten festzustellen ist, oder die eine lange und komplizierte Krankheitsdauer ohne Therapierfolge aufweisen, müssen eine besondere Beachtung erfahren. In der Zahnmedizin sind dabei mehrere Krankheitsbilder von Bedeutung. Dabei sind die Zahnbehandlungsangst bzw. -phobie, die psychogene Zahnersatzunverträglichkeit, der chronische Gesichtsschmerz, somatoforme Störungen, die cranio-mandibulären Dysfunktionen und der Einfluss von Stress auf Parodontitis zu nennen. Unseren Erhebungen zufolge sehen die Zahnärzte bezüglich der letztgenannten Krankheitsbilder eine sehr deutliche Zunahme. Im Rahmen einer bundesweiten Befragungsstudie zum Rollenverständnis von Zahnärztinnen und Zahnärzten zur eigenen Berufsausübung durch das Institut Deutscher Zahnärzte (IDZ) in Köln im Jahre 2010 konnte festgestellt werden, dass der Bruxismus, allgemein bekannt als das Knirschen und Pressen mit Zähnen, als das am meisten zunehmende Krankheitsbild beobachtet wird. Zahnärzte, die sich insbesondere mit der Behandlung parodontologischer Erkrankungen beschäftigen, stellen dies noch sehr viel häufiger fest. Die Daten der Mundgesundheitsstudien des IDZ belegen in der Zeit zwischen 1989 und 1997 eine Verdopplung der Häufigkeit des Zähneknirschens (Bruxismus). Diese Studien belegen außerordentlich deutlich, welchen Einfluss Stress auf den Bruxismus und somit auf Kaumuskulatur und Gelenkbewegung bzw. die entzündlichen Erkrankungen des Zahnbettes (Parodontitis) hat.
Die Bundeszahnärztekammer hat auf Grund dieser Entwicklung bereits im Jahre 2006 den Leitfaden „Psychosomatik in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde" als wissenschaftlich begründeten und gleichzeitig praxisnahen Problemaufriss für den berufstätigen Zahnarzt als systematische Orientierungshilfe herausgegeben. Gleichzeitig verzeichnen wir, dass im Rahmen der Fortbildung der Berufsstand großes Interesse für diese Thematik zeigt. Ganze Zahnärztetage, aber auch curriculäre Fortbildungsangebote zur Psychosomatik, werden stark frequentiert. Dabei wird bewusst die Zusammenarbeit mit ärztlichen Kollegen und den Psychotherapeuten gesucht. Auch Aufklärungsangebote werden in dieser Zusammenarbeit, wie beispielsweise hier in Berlin durch die Zahnärztekammer und Psychotherapeutenkammer, für die breite Bevölkerung angeboten.
Die ganzheitliche Betrachtung des Patienten aus Sicht einer wissenschaftlichen und präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde schließt somit nicht nur die organischen und körperlichen, sondern auch die sozialen Umfeld- als auch die psychischen Faktoren mit ein. Dies erwartet der Patient - und dies ist gleichzeitig der Schlüssel für erfolgreiche Prävention und Therapie im Rahmen des Versorgungsalltages. Der Zahnarzt hat somit die Chance und die Möglichkeit, psychische Störungen zu erkennen, diese anzusprechen und einer adäquaten Therapie zuzuführen. Stresssymptome, wie Knirschen und Pressen, können beeinflusst und generell in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Ärzten und Psychotherapeuten angegangen werden. Tabuisierung und Verdrängen aus Sicht des Patienten und der breiten Öffentlichkeit müssen abgebaut und noch intensiver in die zahnärztliche Versorgung einbezogen werden. Somit ist es möglich, dass auch die Zahnmedizin bei Prävention und Früherkennung von psychosomatischen Erkrankungen eine wichtige Rolle im Gesamtsystem einnehmen kann. Wenn der Tag der Zahngesundheit heute dazu beitragen kann, hierüber die breite Bevölkerung aufzuklären, haben wir ein weiteres wichtiges Ziel unserer gemeinsamen Aktivitäten erreichen können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.