Tag der Zahngesundheit 2010: Gesund beginnt im Mund - Lachen ist gesund

Statement Frau Dr. Anne Wolowski 2010

Gesamter Audio Mitschnitt des Statements:

Tag der Zahngesundheit 2010: Gesund beginnt im Mund - Lachen ist gesund - ausführliches wissenschaftliches Statement zur Thematik - 

PD Dr. Anne Wolowski, Universität Münster

Lachen ist nach Ruch (Zürich, führender Gelologe*) in Europa) eine Ausdrucksform der Erheiterung, beginnend mit einem Lächeln bis hin zum „herzhaften" Lachen. Man weiß heute durch die Möglichkeit bildgebender Verfahren (funktionelle Magnetresonanztherapie), dass es kein explizites „Lachzentrum" gibt, sondern im Wesentlichen zwei Lachnetzwerke: eines für ein bloßes Höflichkeitsgrinsen, ein weiteres für das „echte emotionale Lachen". Wird etwas als witzig empfunden, dann wird der „Vorgang des Lachens" nicht etwa aktiviert, vielmehr wird die Unterdrückung dieses Prozesses ausgeschaltet (Wild et al. 2003). Positive Emotionsausbrüche aktivieren den prämotorischen Kortex, also jenen Hirnbereich, der die Bewegungsabläufe unserer Gesichtsmuskeln koordiniert. Matsumoto und Ekman stellen eindrucksvoll dar, dass die Gesichtsmuskelfunktionen dabei die komplexeste Rolle spielen. Jede orofaciale funktionelle Muskeleinheit kann, bezogen auf Dauer und Intensität, unterschiedliche nervale Impulse empfangen und umsetzen. So verengen sich beim Lachen die Augen, die Brauen heben sich, die Pupillen und Nasenlöcher weiten sich. Die Mundwinkel werden angehoben, der Mund breit gezogen und geöffnet. Die Zähne werden in einem Maße sichtbar, wie es sonst eher nicht geschieht. Aufgrund dieser differenzierten Steuerung ist es nach Schweinberger (Jena) möglich, dass 43 Muskeln 10.000 hochindividuelle Gesichtsausdrücke produzieren können. Eine weitere physiologische (körperliche) Folge des Lachens ist ein verändertes Atemmuster. Die Luft wird mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h hinausgeschleudert. Die Sauerstoffaufnahme ist um das Drei- bis Vierfache erhöht. Das Zwerchfell bewegt sich rhythmisch. Wir stoßen unartikulierte Laute aus. Der Blutdruck steigt. Die Durchblutung der Haut wird in Teilen gefördert. Allerdings erschlafft die Bein- und Blasenmuskulatur („vor Lachen in die Hose machen"). Insgesamt werden nahezu 300 verschiedene Muskeln aktiviert, deren exakte Zahl jedoch nicht geklärt ist. Nach ca. sechs bis acht Sekunden ist dieser „Spuk" vorbei.

Kann das gesund sein? 

Ruch äußert sich in einem Interview 2009 kritisch, dass die gesundheitliche Bedeutung des Lachens oft überschätzt wird. Die Studienlage diesbezüglich ist spärlich und teils mit methodischen Mängeln (z. B. zu kleine Probandenzahlen, keine Kontrollgruppe) behaftet. So wird die Hypothese der neurohormonellen Aktivierung immer wieder in den Vordergrund gestellt. Danach soll es zur Reduktion verschiedener Stresshormone kommen, was einen positiven Einfluss auf das Immunsystem hat und die Ausschüttung des schmerzlindernden Endorphins fördert (Hirsch RD 2002 und Martin 2001). In einer methodisch guten Studie ist es Ruch erst 2005 gelungen, den Nachweis zu erbringen, dass eine „Humortherapie" ein „Schmerzkiller" sein kann. In einer Versuchsreihe konnte er darstellen, dass die Schmerztoleranz nach einer solchen Humortherapie größer ist. Probanden konnten ihre Finger länger in Eiswasser halten als Probanden einer Kontrollgruppe, die keine Humortherapie erfahren hatten. Eine Pilotstudie von Wild et al. (2007) weist positive Effekte bei depressiven Störungen alter Menschen nach. Ebenso konnte Hirsch (2010) bei Menschen mit Depression empirisch nachweisen, dass durch eine Humortherapie Heiterkeit und Lebenszufriedenheit zunehmen, während die Zustandsvariablen Ernst und schlechte Laune abnahmen. Diese Studienergebnisse können auch ein Hoffnungsschimmer sein für die Kostenexplosion in unserem Gesundheitssystem. Laut Datenveröffentlichung des statistischen Bundesamtes vom 10. August d. J. betrugen die Kosten für Verhaltensstörungen im Jahre 2008 knapp 28,7 Milliarden Euro. Seit 2002 ist das eine Steigerung um 32 %. Allein die Hälfte dieses Betrages wurde für die Behandlung von Depressionen und Demenz ausgegeben. Ein Ergebnis solcher Studien ist die weiter zunehmende Präsenz von sogenannten Klinikclowns. In der stationären Kinderbehandlung helfen sie schon seit längerem, Angst zu nehmen und unangenehme Untersuchungen besser zu ertragen. Diese Erfolge stehen ganz im Sinne Adlers (1870-1937, Begründer der Indiviualpsychologie), der feststellte: „Humor ist eine die Therapie fördernde Grundhaltung".

Was aber, wenn das Lachen dem Betroffenen im Hals stecken bleibt?

Die Ursache können „faule" oder fehlende Zähne sein. Für letzteres gibt es mancherlei Ursachen: Mit „faulen" und fehlenden Zähnen wirkt man vernachlässigt, mit Zahnfehl- oder Schiefstellungen fühlt man sich gehemmt, mit defekten Zähnen gerät man schnell als unattraktiv ins soziale Abseits. Durch solcherlei erlebte Schwierigkeiten mit zahnmedizinischen Restaurationen bleiben Gefühle der Unsicherheit zurück. Bischoff (Professorin der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg) führt aus, dass symmetrische Gesichtszüge, eine harmonische Zahnreihe und weiße Zähne als schön gelten. In einer Untersuchung hat sie Führungskräfte befragt, ob und wie diese den Einfluss der äußeren Erscheinung auf die Karriere einschätzen. 1986 hielten nur 5 % der Befragten diesen Aspekt für wichtig. 1999 betrug dieser Anteil bereits 22 %. Tendenz steigend. 2006 zeigte eine Umfrage von proDente, dass fast 44 % der Befragten gepflegte Zähne als Attraktivitätsmerkmal eines Menschen sehen. In einer Studie der DGZPW**)  wurde herausgefunden, dass über 90 % der Befragten schönen Zähne einen wichtigen bis sehr wichtigen Stellenwert beimessen.

Wer allerdings an dieser Stelle zu der Überzeugung gelangt, dass  gerichtete Zähne es schon „richten werden" und damit Attraktivität, Wohlstand und Zufriedenheit in sein Leben einkehren, muss sich eines Besseren belehren lassen. Es ist nämlich nicht zu erwarten, dass Abweichungen vom als attraktiv empfundenen „Idealbild" hinsichtlich Stellung, Form und Farbe von Zähnen vom Laien wahrgenommen werden: Studien belegen, dass es enormer Abweichungen bedarf, bevor standardisiert durchgeführte Veränderungen bewusst bemerkt werden [Hövel (2007), Shaw (1985) und Kokich (1999)].

Mund und Zähne dürfen also nicht im mechanistischen Sinne auf reine Äußerlichkeiten reduziert werden. Dennoch ist mit dem oralen Bereich offensichtlich ein Lebensgefühl verbunden. Das zeigen bundesweite Untersuchungen. So konnten John et al. (2006) zur mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität nachweisen, dass die psychosoziale Erwartung an Zähne und Zahnersatz hoch ist. Das Ziel der Studie war es, die Häufigkeit von subjektiv wahrgenommenen Beeinträchtigungen mittels der deutschen Fassung des Dental Impact Profiles zu untersuchen und daraus Normwerte für die Allgemeinbevölkerung abzuleiten. Es konnten Prävalenzen eingeschränkter mundgesundheitsbezogener Lebensqualität zwischen 13 und 45 % festgestellt werden. Allein 21 % fühlten sich in ihrem Aussehen beeinträchtigt. 13 % gaben an, in psychosozialer Hinsicht durch die reduzierte Mundgesundheit beeinträchtigt zu sein.

Ein weiterer Aspekt, der berücksichtigt werden sollte, ist, dass die orale Region in der Entwicklung eines Menschen große Bedeutung hat. Freud (1856-1939, Begründer der Psychoanalyse) charakterisiert das erste Lebensjahr mit dem Begriff der oralen Phase.

Während dieser Phase stellt der Mund die fast einzige Möglichkeit für den Säugling dar, Kontakt mit der Umwelt aufzunehmen. Fremde Objekte werden mit dem Mund „erfasst". Dieses setzt ein großes Urvertrauen voraus, denn eine Täuschung kann fatale Folgen haben. Störungen während dieser Phase haben laut Freud lebenslange Folgen, bezogen auf zwischenmenschliche Beziehungen und das Selbstwertgefühl. Wie prägend diese Phase sein kann, wird durch Sprichworte wie „nicht alles schlucken wollen", „auf etwas pfeifen" oder „vor Wut auf die Zähne beißen" treffend vom Volksmund ausgedrückt.

Bedenkt man zudem, dass Zunge, Zähne und Lippen, sensorisch wie motorisch überproportional innerviert sind, dann wird deutlich, dass diese Region unvergleichbar empfindlich ist für Sinnesreize und motorisch einer hochkomplexen Steuerung unterliegt. Damit ist sie aber auch in besonderem Maße anfällig für Störungen jeder Art.

Gibt es im Bereich der Zahnmedizin psychosomatische Störungen?

Es gilt als gesichert, dass psychosomatische Erkrankungen Omnipräsenz erlangt haben. Gut belegte Studien bereits aus dem Jahre 1995 - bezogen auf allgemeinmedizinische Praxen - zeigen, dass etwa 25 bis 35 % der Patienten, die dort mit körperlichen Symptomen vorstellig werden, an einer psychischen und/oder psychosomatischen Störung leiden (Üstün et al.). Zahnärzte sind aufgrund ihrer in der Regel allgemein zahnmedizinischen Ausrichtung mit allgemeinmedizinischen Praxen vergleichbar. Das bedeutet, dass auch Zahnärzte bei jedem dritten bis vierten Patienten damit rechnen müssen, dass eine psychosoziale Belastung, gegebenenfalls mit bereits körperlicher Symptomatik, eine Rolle spielt.

Ein wesentliches Merkmal psychosomatischer Störungen ist es, dass es sich dabei um vom Patienten wirklich wahrgenommene körperliche Beschwerden in Form von Schmerzen, Brennen, Kribbeln oder anderen Missempfindungen handelt, für die keine körperliche/zahnmedizinische Ursache, trotz detaillierter Diagnostik, festgestellt werden kann.

Marxkors und Müller-Fahlbusch weisen 1976 eindringlich darauf hin, dass bei diesen Patienten eine „Diskrepanz besteht zwischen den geklagten Beschwerden und den organischen bzw. zahnmedizinischen Befunden." Weiterhin führen sie aus, dass es offensichtlich ist, dass alle Therapieversuche keinen Erfolg im Sinne einer Beschwerdefreiheit oder Linderung bringen und dass die Beschwerden „nicht anatomisch/neurologisch plausible" Strukturen betreffen, sondern vielfach „grenzüberschreitend" erlebt werden.

Diese Definition beschreibt das, was heute unter dem Begriff der somatoformen Störung zusammengefasst wird. Dieses sind Störungen, die „wie körperlich verursacht aussehen, es aber nicht sind."

Dennoch sind die Betroffenen und deren Angehörige davon überzeugt, dass die eigentliche Ursache übersehen wurde. Sie sind in starkem Maße „somatisch" fixiert. Ihr Leidensdruck ist extrem, denn sonst würden sie nicht viele zeit- und kostenintensive Behandlungsversuche immer wieder einfordern. Moral (1885-1933, Rostock) führt hierzu in einer Abhandlung von Grenzfällen aus: „...Es ist menschlich nur verständlich, dem Wunsch des mit seinen Klagen wegen Zahnschmerzen immer wiederkehrenden Patienten schließlich nachzugeben durch die Entfernung des als schuldig bezeichneten Zahnes..."

Diese Odyssee treibt die Betroffenen in die Chronifizierung. Das bedeutet, dass die Beschwerden ein selbständiges Krankheitsbild darstellen mit weitreichenden  psychosozialen Folgen. Die Betroffenen und nahe stehende Personen führen ein beschwerdezentriertes Leben. Sie gehen beispielsweise nicht mehr in einem Restaurant essen, ziehen sich aus dem Freundeskreis zurück oder verreisen nicht mehr.

Eine Patientin fasste ihren Leidensweg in einem Brief mit folgenden Worten zusammen:

„..nachdem alle nur möglichen Untersuchungen und Behandlungen bei verschiedenen Zahnärzten und Ärzten bisher ohne Erfolg waren, hoffe ich nun auf Hilfe und Rat. ...Vor ca. 6 Jahren, nach Einsetzen der 1. Prothese, bekam ich Zungenbrennen, Irritationen des Geschmacksnervs. Während die ersten Jahre noch fast erträglich waren, ist es seit zwei  Jahren unerträglich. Nach 5 Operationen leide ich nun ununterbrochen auch noch an Schmerzen im Bereich des  zahnlosen Oberkiefers. ..."

Es muss ausdrücklich betont werden, dass diese Patienten keine Simulanten sind. Dennoch wird ihnen immer wieder dieses Gefühl vermittelt, wenn keine organischen Ursachen für intensives Leiden festgestellt werden können. Die Diagnose „psychosomatische Störung", die oft erst nach erfolglosen Behandlungsversuchen zur Diskussion gestellt wird, erleben sie zu einem solch späten Zeitpunkt als Kränkung.

Psychiatrische Komorbiditäten

Auch psychiatrische Komorbiditäten (z.B. Depressionen) spielen in der zahnärztlichen Praxis aus drei Gründen eine wichtige Rolle: erstens beeinflussen psychische Erkrankungen das Mundhygieneverhalten sowie die Compliance des Patienten und damit auch seine Mundgesundheit, zweitens können schwer psychisch kranke Menschen den Zahnarzt bei der Behandlung vor erhebliche Herausforderungen stellen (z.B. beim Vorliegen einer Schizophrenie oder von Suizidalität). Die medikamentöse Behandlung solcher Erkrankungen wirkt sich vielfach auch auf das orale Wohlbefinden aus, denn viele dieser Medikamente haben eine belästigende Mundtrockenheit als Nebenwirkung, was dann wiederum Folgen für die Mundgesundheit haben kann wie erhöhtes Risiko der Kariesentstehung und Mundgeruchsbildung. In Kombination mit Zahnersatz stellt das oft eine erhebliche Belastung dar.

Drittens können psychische Erkrankungen auf psychophysiologischem Weg mit zahnmedizinischen Erkrankungen interagieren. Beispielhaft für den letztgenannten Zusammenhang stehen die Verbindungen von Depression und Schmerz, von Depression, Immunsuppression und Parodontitisaktivität, von Stress und Hyperaktivität der Kaumuskulatur sowie von Essstörungen und Zahnschmelzschäden [Wolowski et al. (2010)].

Was kann man tun?

Angesichts solch dramatischer Krankheitsverläufe fragt man sich natürlich, welche Möglichkeiten der Hilfe es gibt. In erster Linie müssen Zahnärzte in der Lage sein, psychosomatische Einflussfaktoren zu kennen und zu erkennen. Dieses geschieht im Rahmen des ärztlichen Gesprächs, welches Zeit kostet. Unsere Patienten müssen lernen, dass die Zahnmedizin nicht nur im traditionellen, also rein organisch ausgerichteten Beschwerdemodell gesehen werden darf. Dieses traditionelle Modell geht auf Descartes zurück, der in seinem 1662 erschienenen Traktat „De homine" den menschlichen Körper als eine Art Maschine beschreibt, die aus einem physikalischen Körper und einer rational unsterblichen Seele besteht. Damit war die Trennung der Einheit von Leib und Seele vollzogen, die gerade bezogen auf die Zahnmedizin sich bis heute hartnäckig hält.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die auch sehr mechanistische Ansicht Descartes' über den Vorgang des Lachens. In seiner letzten Schrift „Die Leidenschaften der Seele" (1649), schreibt er: „Das Lachen besteht darin, dass das Blut, das von der rechten Herzkammer durch die arterielle Vene kommt, die Lungen plötzlich in mehrfacher Wiederholung aufschwellt und bewirkt, dass die Luft, die sie enthalten, gezwungen wird, mit Erschütterung durch die Kehle auszuströmen, wobei sie unartikulierte und herausstoßende Laute bildet. Die Lungen blähen sich derart auf, dass sie, wenn die Luft ausströmt, gegen die Muskeln des Zwerchfells, der Brust und der Kehle stoßen. Dadurch werden auch die Gesichtsmuskeln, die mit dem Letztgenannten gewisse Verbindungen haben, bewegt. Genau diese Gesichtsbewegungen, verbunden mit den unartikulierten und stoßenden Lauten, nennt man Lachen."

Erst 1977 prägte George L. Engel den Begriff des „biopsychosozialen Modells". Im Sinne dieses Modells müssen wir akzeptieren/wieder akzeptieren, dass es mehr gibt als „nur" organisch verursachten Zahnschmerz, ebenso wie Lachen der körperliche Ausdruck eines Lebensgefühls ist und trotz seiner massiven körperlichen Reaktionen kein Zustand ist, der einer Behandlung bedarf. Ähnlich verhält es sich mit dem Zustand der Angst. Auch hier werden in Abhängigkeit von der erlebten Situation und der Erfahrung, die Betroffene angesichts vergleichbarer Situationen gemacht haben, oft dramatische körperliche Reaktionen in Gang gesetzt. Lachen ist auch eine körperliche Ausdrucksform eines emotionalen Zustandes. Angesichts jeder Erkrankung/jedes körperlich (als pathologisch) erlebten Symptoms spielen bei Entstehung, Verlauf und der Bewältigung bzw. Fortdauer psychosoziale Einflussfaktoren in unterschiedlichem und auch wechselndem Ausmaß eine Rolle. Psychosoziale Einflussfaktoren können beispielsweise die aktuelle Lebenssituation des Patienten (Tod oder Erkrankung des Partners, Beginn des Ruhestands, Pflege eines nahen Angehörigen, wie auch die Entlastung einer solchen Stresssituation nach dem Versterben des Erkrankten, die Änderung der Familienstruktur u.ä.) oder seine eigenen oder beobachtete Erfahrungen der Vergangenheit sein.

Diese Aspekte müssen mit dem Patienten im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung besprochen werden. Betroffene wie deren Angehörige dürfen die Diagnose „psychosomatische Störung" nicht als negatives Stigma erleben. Das somatische Beschwerdekonzept des Patienten muss erweitert werden. Er muss lernen, psychosoziale Einflussfaktoren zu akzeptieren, damit er aktiv bei der Identifizierung und Bewältigung mitarbeiten kann. Denn nur auf dieser Basis kann damit umgegangen werden. Hier gilt es durch individuelle wie allgemeine Aufklärung Tabus zu brechen. Ein Gespräch über die Lebenssituation des Patienten stößt jedoch oft auf Unverständnis. Die Patienten erwarten nicht, dass Zahnärzte sich für „mehr als nur für Zähne" interessieren. Die Patienten kommen mit einer primär - um nicht zu sagen: ausschließlichen -somatischen Behandlungserwartung. Psychosoziale Themen im Kontext dieser Erwartungshaltung und natürlich auch im Kontext eines zahnärztlichen Behandlungszimmers werden als unpassend erlebt. Köhle verweist darauf, dass über 60 % der Diagnose bereits nach dem Erheben der Anamnese feststehen. Es gilt die Regel, je länger ein Gespräch dauert, umso präziser die Diagnose. Eine längere Gesprächsdauer hat zudem eine bessere Einbeziehung des Patienten in die Problemdefinition und die Einbeziehung psychologischer Themen zur Folge (Bahrs 2003). Durch die klinische Untersuchung wird die Verdachtsdiagnose dann (gezielt) abgesichert. Die Qualität der Informationsermittlung und die Qualität der Zahnarzt-Patient-Beziehung beeinflusst darüber hinaus die Patientenzufriedenheit, das Behalten von Informationen, den Behandlungserfolg und die Einstellung zur eigenen Mundgesundheit positiv (Witt et al. 1996).

Somit hat das ärztliche Gespräch nicht nur diagnostische, sondern auch wichtige therapeutische Funktionen.

Werden psychosoziale Faktoren frühzeitig in Diagnostik und Therapie berücksichtigt, dann besteht seitens des Patienten die große Chance auf Heilung. Eine zunehmende Krankheitsdauer verringert diese Chance. Dabei sollte jedoch in jeder Phase der Zahnarzt-Patienten-Beziehung beachtet werden, dass ein psychosozial erkrankter Patient nicht mehr, aber auch nicht weniger organisch krank ist als ein Patient, dessen Beschwerden weniger unter dem Eindruck psychosozialer Faktoren stehen. Das bedeutet, dass organische Faktoren immer in angemessener Art und Weise berücksichtigt werden müssen: Es geht darum das eine (Zahnmedizinisch-Somatische) zu tun und das andere (bio-psychosoziale Anamneseerhebung) nicht zu lassen.

Myoarthropathien im Kiefer-Gesichtsbereich

Neben dem Krankheitsbild der somatoformen Störung ist das Krankheitsbild der Myoarthropathie im Kiefer-Gesichtsbereich ein weiteres Beispiel für das Zusammenspiel körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren. Entsprechend einer Stellungnahme der DGZMK***) ist die Ätiopathogenese dieses Krankheitsbildes multifaktoriell und entspricht dem bio-psychosozialen Krankheitsverständnis. Traumatische, anatomische, neuromuskuläre und psychosoziale Faktoren können in unterschiedlicher und wechselnder Gewichtung prädisponierende, auslösende und unterhaltende Krankheitsfaktoren sein. Leitsymptom dieser Erkrankung ist der Schmerz in den Kaumuskeln, gegebenenfalls in den Kiefergelenken und assoziierten Strukturen. Ergebnisse der 3. Deutschen Mundgesundheitsstudie und der SHIP-Studie****) zeigen, dass die Gesamtprävalenz bei 3 bis 5 % in Deutschland liegt. Zur Risikogruppe zählen 25- bis 45-Jährige. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Laut Stowel et al. (2007) betragen die direkten Kosten für die Behandlung von Myoarthropathien im Kiefer-Gesichtsbereich in den USA jährlich 4 Milliarden Dollar.

Die Diagnostik sollte entsprechend dem bio-psychosozialen Ansatz in einem Stufenschema erfolgen. Basierend auf einer ausführlichen Anamneseerhebung und zahnmedizinischen Befundung werden weitere organische und/oder psychosoziale Fragestellungen gezielt verfolgt.

Ein zentraler Aspekt der Therapie dieses Krankheitsbildes ist wiederum die Aufklärung der Betroffenen. Jede Form somatischer Maßnahmen sollte zunächst reversiblen Charakter haben (Statement der American Association for Dental Research, März 2010)

Weiterhin entscheidend ist die schnelle Schmerzlinderung zur Vermeidung teils irreversibler struktureller neuroplastischer Veränderungen, die durch einen Dauerschmerz ausgelöst werden können. Eine solche Schmerztherapie orientiert sich an dem Grad der Chronifizierung. Chronifizierter Schmerz bedarf einer interdisziplinären Vorgehensweise, gegebenenfalls in einer dafür spezialisierten schmerztherapeutischen Einrichtung.

Schluss

Zusammenfassend kann man feststellen, dass psychosomatische Krankheiten omnipräsent sind. Der vorliegende Beitrag spiegelt nur einen kleinen Ausschnitt dieser umfassenden Problematik wieder, die u. a. auch Themen wie Zahnbehandlungsangst oder schwerste dysmorphe Störungen umfasst. Viele der Betroffenen erleben einen enormen Leidensdruck, der sich noch dadurch verstärkt, dass diese Erkrankungen oftmals keine „gesellschaftliche Anerkennung" haben und Erkrankte als Simulanten abgestempelt werden. Das Lachen ist Betroffenen wie Angehörigen oft seit Jahren vergangen. Hier tut Aufklärung im Sinne der Förderung einer allgemeinen Akzeptanz Not. Prophylaxe, Früherkennung und eine adäquate Therapie werden dadurch in vielen Fällen erst möglich, zumindest werden sie erleichtert. Das Wiedererlangen von Lebensqualität, Lebenszufriedenheit, welches auch im Lachen seinen Ausdruck finden kann, darf dann dem Betroffenen in Aussicht gestellt werden. Es ist die Aufgabe aller Beteiligten - der Zahnärzte, Gesundheitspolitiker, aber auch der Medien - diesen Weg zu bereiten und dieses Thema auch bezogen auf die Zahnmedizin zu enttabuisieren.

Fazit

Psychosomatische Erkrankungen sind auch in der Zahnmedizin allgegenwärtig!

Psychosoziale Einflussfaktoren beeinflussen in unterschiedlichem Maße jede Art von Beschwerden und jede Krankheit sowie den Genesungsprozess!

Psychosomatisch krank zu sein ist kein Makel!

Psychosomatische Erkrankungen sind heilbar, sie bedürfen aber in der Diagnostik und der Therapie in besonderer Weise der aktiven Mitarbeit der Betroffenen!

Tipps für Betroffene

Zahnschmerzen, Mundschleimhautbrennen oder Schwierigkeiten mit zahnmedizinischen Versorgungen haben nicht immer eine organische und/oder zahnmedizinische Ursache. Manche Patienten haben z.B. das Gefühl, dass ihr Zahnersatz oder ihre Prothese nicht passen - sie denken, es liege an der Konstruktion und eine Änderung würde dann alle Probleme lösen. Tatsächlich kann es aber sein, dass dieser Zahnersatz oder die Prothese der Seele nicht "passen", die sich gegen diesen Fremdkörper auflehnt. Hier muss man dann ansetzen, denn gegen die fünfte oder sechste Prothese würde sich die Seele nicht weniger, vielleicht sogar noch mehr wehren.

Heute weiß man, dass seelische Belastungen oder Stresssituationen  Beschwerden an jedem Organ - also auch im Mundbereich - auslösen können. Ärzte und Zahnärzte wissen, dass Patienten mit solchen Erkrankungen keine Simulanten sind und vielfach extrem leiden. Hier hilft nicht die wiederholte Korrektur oder Erneuerung von Füllungen, Wurzelfüllungen oder Zahnersatz. Auch chirurgische Eingriffe oder gar das Ziehen von Zähnen hinterlassen u. U. einen irreversiblen Schaden. Durch solche Maßnahmen kann in diesen Fällen keine Heilung erzielt werden.

Suchen Sie gemeinsam mit Ihrem Zahnarzt nach den Gründen für Ihr Leiden. Erst die Bereitschaft, sich mit dem Phänomen einer psychosomatischen Störung auseinander zu setzen, macht eine Therapie möglich.

Psychosomatischen Erkrankungen sind heilbar, insbesondere dann, wenn sie frühzeitig erkannt werden.

Patienten, die Stress durch Knirschen mit den Zähnen abbauen, sollten sich von ihrem Zahnarzt beraten lassen. Zum Schutz der Zähne sollten sogenannte Aufbissschienen getragen werden. Zum Schutz der Zähne und der Psyche sollten Entspannungsverfahren und Stressverarbeitungsstrategien unter professioneller Anleitung erlernt werden.

*) Lachforscher

** ) 2001, http://www.dgzpw.de/pdf/behandlungsbedarf2020gesamt.pdf; DGZPW = Deutsche Gesellschaft für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde

***) DGZMK = Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

****) SHIP = Study of Health in Pomerania


Zitierte und weiterführende Literatur und Links

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