Statement 16.09.2011

Von Herrn Prof. Dr. Dietmar Oesterreich

Gesamter Audio Mitschnitt des Statements:

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit der heutigen zentralen Auftaktpressekonferenz zum „Tag der Zahngesundheit 2011" lenken Zahnmediziner, Krankenkassen sowie Kinder- und Jugendärzte den Blick auf die sehr heterogene, aber so bedeutende Zielgruppe der Kleinkinder und Kinder. Schließlich wird am Lebensanfang der Grundstein für eine gute Mundgesundheit - und damit, wie wir heute wissen, für einen optimalen gesundheitlichen Lebenslauf gelegt. Deswegen wollen wir nicht nur auf erreichte Erfolge blicken, sondern uns intensiv mit den aktuellen Problemlagen auseinandersetzen.

Wie steht es mit der Mundgesundheit unserer Kinder?

Insgesamt verzeichnen wir deutliche Erfolge in der zahnärztlichen Prävention. Insbesondere bei 12-Jährigen in Deutschland: Der Rückgang an Zahnkaries um 80 Prozent in dieser Altersgruppe in den letzten 25 Jahren hat Deutschland in die absolute Spitzengruppe im weltweiten Vergleich aufrücken lassen. Sicherlich eine Vorbildfunktion für das gesamte deutsche Gesundheitswesen.

Auch bei 6-jährigen Kindern stellen wir einen Kariesrückgang in den letzten 16 Jahren fest, der allerdings mit max. 43,5 Prozent deutlich unter den Werten bei 12-Jährigen liegt.

Schaut man sich Kleinkinder, also 0- bis 3-Jährige an, ist festzustellen, dass keine bundesweit repräsentativen Daten vorliegen, jedoch zahlreiche lokale Studien darauf hinweisen, dass die frühkindliche Karies ein zunehmendes Problem darstellt. Somit liegen gerade in dieser Altersgruppe deutliche Potentiale, denn annähernd die Hälfte der kariösen Defekte, die zum Zeitpunkt der Einschulung vorhanden sind, entstehen bereits in den ersten drei Lebensjahren. Ein besonderes Phänomen bei den 0- bis 3-Jährigen ist die sog. Nuckelflaschenkaries. Ursache ist der regelmäßige und lange Gebrauch der Nuckelflasche mit gesüßten oder fruchtsäurehaltigen Getränken. Oft werden diese Getränke den Kindern zur Selbstbedienung auch in der Nacht als Durstlöscher überlassen. Folgen sind bereits in dieser Altersphase tiefgreifende Zerstörungen, insbesondere der oberen Frontzähne. Nicht selten führen diese Zerstörungen zu massiven Beschwerden und nachfolgend aufwendigen Zahnentfernungen unter Vollnarkose.

Auffällig ist, dass sich die hohe Karieslast auf eine relativ kleine Anzahl von Kindern aus niedrigen sozialen Schichten (Polarisierung des Erkrankungsrisikos) bezieht. Auch wird das Auftreten dieser frühzeitigen und extremen Kariesform in der wissenschaftlichen Literatur mit dem Thema Kindesvernachlässigung diskutiert.

Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass auch der Sanierungsgrad der Milchzähne nicht zufriedenstellend ist. Zwar verbesserte sich der Sanierungsgrad in den letzten Jahren in fast allen Bundesländern, trotzdem sind - bezogen auf ganz Deutschland - immer noch 47,4 Prozent der kariösen Milchzähne nicht mit intakten Füllungen versorgt. Ursache ist häufig die zu späte Vorstellung der Kinder beim Zahnarzt. Vielfach aus Unwissen, auch bezüglich der notwendigen Mundhygiene und des richtigen Ernährungsverhaltens, aber vor allem hinsichtlich der Bedeutung der Mundgesundheit für die Kindesentwicklung. Andererseits muss selbstkritisch festgestellt werden, dass nicht bei allen Zahnärzten die Sanierung der Milchzähne den geforderten hohen Stellenwert hat. Dieses Manko ist unter anderem der defizitären Hochschulausbildung geschuldet.

Wie steht es um die Mundgesundheit junger Migrantinnen und Migranten?

Rund 15 Millionen Migrantinnen und Migranten und ihre Kinder leben in Deutschland. Obwohl viele schon lange, zum Teil in der zweiten und dritten Generation, hier leben, partizipieren sie deutlich weniger an der kontinuierlichen Verbesserung der Mundgesundheit im Vergleich zur deutschen Bevölkerung. Wie die Analyse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts (KiGGS) zum Mundgesundheitsverhalten zeigt, sind die gesundheitlichen Risiken nicht nur in Abhängigkeit vom Sozialstatus, sondern auch in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund ungleich verteilt. Vor allem Kinder und Jugendliche aus der Türkei, der ehemaligen Sowjetunion und aus arabisch-islamischen Ländern tragen der KiGGS-Studie zufolge ein erhöhtes Risiko für Karies: Zum einen putzen sie ihre Zähne nicht häufig genug, gehen zu selten vorsorgeorientiert zum Zahnarzt und weisen eine geringe Fluoridierung sowie weniger Fissurenversiegelungen an den Backenzähnen auf. Zum anderen greifen diese Kinder und Jugendlichen häufiger zu Süßigkeiten und kariogenen Softgetränken als andere Heranwachsende.

Die vorgestellten Problemlagen sind somit sehr vielschichtig und bedürfen damit auch komplexer Antworten. Dabei gilt insbesondere: "Je früher - desto besser".

Warum spielt die Mundgesundheit schon bei Kindern eine besonders wichtige Rolle?

Eine gute Mundgesundheit bei Kindern ist die Basis für die gesunde körperliche Entwicklung und Voraussetzung für gesunde Zähne im Erwachsenenalter. Milchzähne haben wichtige Aufgaben für das Kauen, für die Sprachentwicklung, als Platzhalter für bleibende Zähne aber auch für eine psychisch gesunde Entwicklung. Richtige Ernährung, optimale Mundhygiene, der altersgerechte Gebrauch von Fluoriden und die regelmäßige zahnärztliche Betreuung sind wichtig für gesunde Milchzähne.

Welche Lösungsansätze gibt es für die beschriebenen Probleme?

Generell gilt es, dass allgemeine Wissen um die Mundgesundheit zu verbessern. Nicht zuletzt sollen auch der heutige Tag und alle Aktivitäten zum Tag der Zahngesundheit dazu dienen. Die Bedeutung des ersten Zahnarztbesuchs sollte bekannter werden. Kinder kommen oft zu spät zum ersten Mal zum Zahnarzt. Milchzähne beginnen bereits im ersten Lebensjahr durchzubrechen, dann muss auch gleich die tägliche Mundhygiene einsetzen. Gleichzeitig ist es in dieser Lebensphase wichtig, die Gebissentwicklung zu kontrollieren, Tipps zu Ernährung und Mundhygiene im individuellen Gespräch an die Eltern weiterzugeben. Deswegen empfiehlt die zahnmedizinische Wissenschaft den Zahnarztbesuch im ersten Lebensjahr. Wichtig ist, das Kind frühzeitig an die Umgebung einer Zahnarztpraxis heranzuführen. Für den Vertrauensaufbau ist es gut, zunächst spielerisch und angstfrei die zahnärztliche Untersuchung kennenzulernen. Ein Kontrolltermin, halbjährlich wiederholt, ist dafür ideal. Leider kommen nach wie vor Eltern mit ihren Kindern erst zum Zahnarzt, wenn bereits ein Schaden oder Beschwerden vorliegen.

Wissen und Information gilt es aber auch frühzeitig auf anderen Wegen zu vermitteln. Die vorliegenden Probleme erfordern eine entsprechende Aufklärung -  idealerweise bereits im Rahmen der Schwangerenbetreuung. Karies ist eine Infektionskrankheit. Die Karies auslösenden Bakterien werden vornehmlich über soziale Kontakte von den Eltern auf die Kinder übertragen. Folglich ist eine gute Mundgesundheit der werdenden Mutter die beste Voraussetzung für ein geringes Erkrankungsrisiko des Kindes. Unserer Ansicht nach eine wichtige Information an die Mutter, die in dieser Lebensphase ein besonderes Augenmerk auf die gesunde Entwicklung ihres Kindes richtet. Der Gynäkologe könnte die Schwangere über die Bedeutung der eigenen Mundgesundheit für die Kindesentwicklung aufklären und die werdende Mutter zum Zahnarzt überweisen. Der Zahnarzt kann seinerseits auf Grund der individuellen Situation bei der Patientin präventive und therapeutische Maßnahmen zur Senkung des Erkrankungsrisikos vornehmen, aber auch gleichzeitig wichtige Informationen für die Mundgesundheit des Kleinkindes vermitteln.

Die zahnärztlichen Berufsorganisationen in den Bundesländern haben dazu zahnärztliche Kinderpässe herausgegeben, die oft bereits die Zeit der Schwangerschaft mit einbeziehen. Diese Pässe dienen nicht nur, ähnlich dem ärztlichen Kinderuntersuchungsheft, der Darstellung der Kontrolltermine und der erfassten Befunde, sondern gleichzeitig der spezifischen Vermittlung von Informationen für die einzelnen Lebensphasen. So geht es um Fragen der Mundhygiene, der mundgesunden Ernährung und des Einsatzes von Fluoriden. Seit Jahren bemüht sich die Zahnärzteschaft, diesen zahnärztlichen Kinderpass als verpflichtend im Zusammenhang mit dem ärztlichen Kinderuntersuchungsheft herauszugeben. Erfreulicherweise ist es durch Kooperation mit der Ärzteschaft in den verschiedenen Bundesländern gelungen, die Verbreitung und gemeinsame Herausgabe auf freiwilliger Basis zu steigern.

Aber auch bei der Gesundheitspolitik liegt die Verantwortung, entsprechende Rahmenbedingungen für ein solches Vorhaben auf gesetzlicher Grundlage zu schaffen. Ebenso ist die Selbstverwaltung gefordert zu prüfen, in wie weit spezifische Betreuungskonzepte für Kleinkinder notwendig sind. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ) hat dies bereits angeregt. Wir hoffen sehr, dass mit diesem Tag ein erneutes Signal gesetzt werden kann.

Ebenfalls wichtig erscheint uns, die Kooperationen mit Pädiatern zu verbessern. Deswegen freue ich mich, auch einen Vertreter der Kinderärzte heute bei uns zu wissen. Ich möchte betonen, dass es nicht um Kompetenzgerangel oder um die Verteilung von Ressourcen geht. Es gibt bereits viele gute Beispiele dieser Zusammenarbeit auf Landesebene und es ist an der Zeit, dies zu institutionalisieren. Es gilt, gegenseitige Kompetenzen anzuerkennen, Synergien zu suchen und einheitliche Botschaften zu vermitteln.

Die Zahnärzteschaft hat Initiativen unternommen, um auf dem Gebiet der Ernährung einheitliche Empfehlungen mit der Ärzteschaft abzustimmen. Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) wurde im Jahr 2010 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Ernährung und Zahnmedizin" gegründet, welche ein „Positionspapier Ernährung und Mundgesundheit" erarbeitet, um die anerkannten Empfehlungen zur gesunden Ernährung als auch die oralprophylaktischen Forderungen zu bündeln und aufeinander abzustimmen. Mit dieser Initiative soll es zukünftig verstärkt gelingen, zahnmedizinische Aspekte bei den Themenfeldern Familie, Kleinkind und Ernährung zu platzieren. Leider erleben wir es immer wieder, dass politische Initiativen die Zahnmedizin außen vor lassen - und erhoffen uns von unseren ärztlichen Kollegen mehr Unterstützung bei der Wahrnehmung unseres Fachgebietes.

Neben den spezifisch zahnärztlichen Aspekten sowie der interdisziplinären Kooperation und Information sind auch die Maßnahmen der Gruppenprophylaxe verstärkt für die jüngsten Kinder einzusetzen. Sicherlich ein schwieriges Unterfangen, da die Betreuung der Kleinkinder und damit die Organisation gruppenprophylaktischer Maßnahmen nicht so einfach zu bewerkstelligen ist wie in den Kindergärten und Schulen. Ziel muss es sein, Betreuer und Eltern schon in dieser frühen Lebensphase anzusprechen, in die Maßnahmen einzubinden und wichtige Informationen zu vermitteln.

Besonderes Augenmerk sollte dabei auf Menschen in sozial schwierigen Lebenslagen und auch Migranten gelegt werden. Für eine Verbesserung der Mundgesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund haben sich die „strukturierte" Mundgesundheitsaufklärung zur Verbesserung des Mundgesundheitswissens der Eltern sowie die Programme für besonders kariesgefährdete Kinder im Rahmen der Gruppenprophylaxe als erfolgreich erwiesen. Im Rahmen des Dialogforums des Bundesministeriums für Gesundheit "Gesundheit und Pflege" im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Integration der Bundesregierung wurden im Juli dieses Jahres weitere gruppen- und individualprophylaktische Maßnahmen zur Verbesserung der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund vereinbart. Besonders das Bildungsniveau ist hervorzuheben, da mit Bildung Wissen, Normen, Einstellungen und Gewohnheiten verbunden sind, die Einfluss auf das (Mund)Gesundheitsverhalten haben.

Wir wollen heute im Rahmen dieser zentralen Pressekonferenz zum Tag der Zahngesundheit 2011 gemeinsam mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte den Auftakt geben für eine stärkere Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der (Mund)Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen.

Das zahnmedizinische Präventionsanliegen ist integraler Bestandteil des Themenkanons von Gesundheitsprävention und Gesundheitserziehung. Der Tag der Zahngesundheit mit seiner Verstetigung und den vielfältigen kreativen Ideen über 20 Jahre besitzt hierbei einen zentralen Stellenwert. Entsprechend fordern wir an solchen Tagen immer wieder die Berücksichtigung der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde bei sämtlichen Aktivitäten von Gesundheitspolitik und allen Verantwortlichen. Auch hier gilt: "Je früher, desto besser".

Abschließend möchte ich im Namen der Bundeszahnärztekammer dem engagierten Praxispersonal, den niedergelassenen Zahnärzten, den Landes- und regionalen Arbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege, den Krankenkassen, den Zahnärzten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sowie den Lehrern und Erziehern, die seit Jahren "vor Ort" an der Umsetzung einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde arbeiten, ein herzliches Dankeschön für die geleistete Arbeit sagen.

Ohne die großartige Unterstützung dieser vielen Partner im Bereich Mundgesundheit wären die bisher erreichten Erfolge - insbesondere in der Kariesprävention - nicht möglich!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Für Rückfragen:
Dr. Sebastian Ziller, Telefon: +49 30 40005-125, E-Mail: s.ziller@remove.this.bzaek.de