Statement 24. September 2003

Von Dr. Dietmar Oesterreich Vizepräsident der Bundesärztekammer, Präsident der Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern

Es gilt das gesprochene Wort.

1. Einleitung

Anrede

Die heutige zentrale Pressekonferenz zum diesjährigen "Tag der Zahngesundheit" soll Anlass sein, sich vertiefend den Zahnstellungs- und Kieferanomalien in der Mundgesundheit zu widmen. Dies vor dem Hintergrund, dass eine frühzeitige Diagnostik beim Zahnarzt spätere, möglicherweise schwerwiegende Folgerkrankungen, präventiv zu verhindern bzw. abzuschwächen vermag.

Prävention in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde wird oftmals in der Öffentlichkeit stark verkürzt auf die Kariesprävention fokussiert (Folie 1). Aus der Sicht der Bundeszahnärztekammer ist Prävention die umfassende Grundlage zahnmedizinischen Handelns. Sie dient der Erhaltung aller oralen Strukturen und darüber hinaus der Verhinderung von systemischen Erkrankungen. Dies natürlich durch die Kariesprophylaxe, durch die Gingivitis- und Parodontitisprophylaxe, durch die Vermeidung von Zahntraumata und nicht kariös bedingter Zahnhartsubstanzdefekte, durch die Verhütung von Mundschleimhaut- und oralen Tumorerkrankungen, durch die Vermeidung von Funktionsstörungen und Erkrankungen der Kiefergelenke, von Knochenresorption sowie die Minderung von Risiken für systemische Erkrankungen und eben auch durch die Verhinderung von Zahnstellungs- und Bisslagefehlern und Kieferanomalien.

Zahnstellungs- und Kieferanomalien können Okklusionsstörungen, Dysgnathien und Parodontopathien auslösen oder als ursächliche Co-Faktoren erschweren (Folie 2). Die regelrechte Gebissentwicklung ist aber auch für die Sprachentwicklung im Kindesalter sowie für eine ausgewogene Ernährung von großer Bedeutung. Nicht zuletzt sei auf die ästhetischen Aspekte der Zahnstellung verwiesen, die wesentlich zu einer Beeinflussung des Selbstwertgefühls beitragen.

2. Epidemiologie - Behandlungsnotwendigkeit

Wir wissen heute auf Grundlage wissenschaftlicher Studien (Folie 3), dass rund 20% der Symptome bei kieferorthopädischen Patienten als anlage- bzw. erbbedingt (genetisch), ca. 44% als exogen (davon ca. 20% vorzeitiger Milchzahnverlust durch Karies; Habits wie Zungenpressen, Lippenbeißen, Wangensaugen sowie Entfernung/Verlust bleibender Zähne) und rund 35% als nicht eindeutig zuzuordnen klassifiziert werden.

Die Behandlungsnotwendigkeit (Folie 4) beträgt zwischen dem 8. und 11. Lebensjahr nach dem Index for Orthodontic Treatment Need (IOTN) bei Einschluss des Dental Health Component-Grades 3 (DHC) 45%. Dies entspricht auch dem Anteil Behandlungsbedürftiger bei Anwendung der sog. Indikationsregel, welche seit Anfang 2002 leichte Fälle aus der Leistungspflicht der Krankenkassen ausschließt. Die Abnahme der Behandlungsbedürftigkeit zwischen dem 9. und 17. Lebensjahr von 50% auf 30% ist dem Einfluss der kieferorthopädischen Therapie zuzuschreiben. Klammert man den DHC-Grad 3 aus, reduziert sich die Behandlungsnotwendigkeit um ca. 10%. auf rund 40% bis 20% der 6 - 16-Jährigen, die tatsächlich in Behandlung genommen werden.

3. Kieferorthopädische Frühbehandlung (Behandlungsindikationen vor dem 9. Lebensjahr)

Die normale kieferorthopädische Behandlungsphase reicht vom 9. bis zum 14. Lebensjahr (zweite Phase des Zahnwechsels). Ein früherer Behandlungsbeginn ist i. d. R. nicht vor dem 4. Lebensjahr sinnvoll, da für die Mitarbeit eine ausreichende Kooperationsbereitschaft des Kindes vorhanden sein muss.

Ab dem Säuglingsalter sind aber bereits prophylaktische Maßnahmen sinnvoll (Folie 4): Ernährungsberatung, Kariesprophylaxe, Vermeidung schädlicher Gewohnheiten (Schnuller, Daumenlutschen, Zungenpressen, Lippenbeißen, Wangensaugen). Auch bestimmte Erkrankungen, wie z. B. Trisomie 21 oder Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten erfordern die Behandlungsaufnahme bereits im Säuglingsalter.

Hauptindikationen für eine Frühbehandlung sind:

  • stark ausgeprägte skelettale Dysgnathien, die zur Progredienz neigen, die Wachstumshemmungen zur Folge haben oder / und deren spätere Behandlung erschwert ist,
  • Funktionsstörungen des Kausystems,
  • Gefährdung der weiteren Gebissentwicklung,
  • Gefährdung der psychischen Entwicklung des Kindes.

 

Um eine mögliche Behandlungsnotwendigkeit (Folie 5) abzuklären, ist ein frühzeitiger Zahnarztbesuch dringend zu empfehlen! Auch Hausärzte bzw. Kinderärzte sollten im Rahmen ihrer Aufklärung zum rechtzeitigen Zahnarztbesuch motivieren. Der Zahnarzt wird auf Grund der vorliegenden Befunde über die weitere Behandlung und gegebenenfalls die Überweisung zum Kieferorthopäden entscheiden.

4. Gesetzliche Grundlagen: KIG - das befundbezogene kieferorthopädische Indikationssystem

KIG ist das neue befundbezogene kieferorthopädische Indikationssystem (Folie 6) mit Einstufung des Behandlungsbedarfs nach kieferorthopädischen Indikationsgruppen. Es löste das jahrelang gültige therapieorientierte Indikationssystem am 1.1.2002 ab.

Das Ziel der Änderungen: Die gesetzlichen Krankenkassen sollen durch die Ausgrenzung bestimmter definierter Untersuchungsbefunde rund 30 Prozent bei den Kfo-Ausgaben sparen. Nach Paragraph 29 Absatz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V haben Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen einen Leistungsanspruch, wenn "eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht".

Der Kieferorthopäde hat anhand bestimmter kieferorthopädischen Indikationsgruppen festzustellen, ob der Grad einer Fehlstellung vorliegt, für deren Behandlung der Versicherte einen Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse hat. Mit dem KIG-Bewertungs-System soll der Zahnarzt - unmittelbar vor dem geplanten Behandlungsbeginn - bei der klinischen Untersuchung die Fehlstellung mit dem größten Behandlungsbedarf erkennen.

Die kieferorthopädischen Indikationsgruppen (Befunde) sind in fünf Behandlungsbedarfsgrade eingeteilt. Der Befund mit dem höchsten Behandlungsbedarf entscheidet über die Kostenübernahme. Nur bei den Graden 3, 4 und 5 hat der Versicherte einen Leistungsanspruch gegenüber seiner Krankenversicherung.

5. Schlussfolgerungen: Weshalb zahnärztliche Früherkennungsuntersuchungen so wichtig sind.

Gerade weil die o. g. umfangreiche Ausgrenzung vertragszahnärztlicher Behandlung bestimmter Zahnfehlstellungsanomalien keine Einschränkung der medizinischen Indikation anzeigt, , ist eine frühzeitige zahnärztliche Information und Aufklärung von Eltern, Kindern und Jugendlichen mehr denn je geboten, um notwendige Behandlungen schwerer Anomalien zu gewährleisten.

In diesem Zusammenhang möchte ich (Folie 7) auf die sog. Früherkennungsuntersuchungen hinweisen, die im Alter von 3 - 6 Jahren in der zahnärztlichen Praxis insbesondere bei Kindern durchgeführt werden. Es sei erwähnt, dass Eltern ihre Kinder oftmals viel zu spät beim Zahnarzt vorstellen. Erstmalige Vorstellung in der Zahnarztpraxis empfehlen wir zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr, wobei das Kind sich gemeinsam mit den Eltern spielerisch an die zahnärztliche Untersuchung gewöhnt. Auf diesem Wege können gleichzeitig die Erziehungsberechtigten ausführlich über präventive Möglichkeiten, insbesondere den Gebrauch von Fluoriden, der Zahn- und Mundhygiene sowie der Ernährung informiert werden. Somit ist nicht nur die öffentliche Aufklärung über diese Tatsache zu fordern, sondern auch eine Vernetzung der Aktivitäten zwischen Pädiater und Zahnarzt.

Des Weiteren sollte auch die zahnärztliche Beratung von Schwangeren intensiviert werden, u. a. mit Hinweisen zur Ernährung, zur Bedeutung der (Milch)Zähne für die Sprachentwicklung, zu Mundhygienetipps ab dem ersten Milchzahn, zu Kieferfehlentwicklungen, zur Fluoridierung und zur Gefahr der Saugerflaschenkaries.

Wenn wir lebenslange Prävention anstreben, so ist es auch unsere Aufgabe, den Patienten in seinen jungen Jahren für ein eigenverantwortliches Handeln im Sinne der "oral-health-self-care" zu stärken. Dafür setzt sich die Bundeszahnärztekammer seit Jahren nachhaltig ein. Denn fachliche Herausforderungen, wie die demographische Entwicklung der Gesellschaft und die Polarisierung des oralen Erkrankungsrisikos auf sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen - übrigens thematisierte der letztjährige Tag der Zahngesundheit die sozialschichtspezifischen Unterschiede in der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen – sowie die zunehmende Bedeutung der oralen Gesundheit für die Allgemeingesundheit, erfordern Präventionskonzepte, die den gesamten Lebensbogen eines Menschen umfassen. Die Bundeszahnärztekammer verweist hier auf ihr Konzept „Prophylaxe ein Leben lang“, welches seit mehreren Jahren mit fachlichen Inhalten für Patienten und Zahnärzte seine Umsetzung findet.

6. Epilog

Natürlich ist auch die Politik gefordert (Folie 8), gesundheits- und sozialpolitische Handlungsspielräume zu eröffnen bzw. auszubauen, um zahnmedizinische Prävention erfolgreich zu ermöglichen. Die im 1. Arbeitsentwurf des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes festgeschriebene Praxisgebühr ist unter präventiven Aspekten kontraproduktiv und schreckt motivierte Patienten von einem Praxisbesuch ab.

Die Entscheidung für ein Mehr an Prävention und ein Mehr an Mundgesundheit ist somit immer auch eine gesundheitspolitische Grundsatzentscheidung.

Der diesjährige Tag der Zahngesundheit will Denkanstöße vermitteln und mit Informationen vor allem dafür sorgen, dass Kinder gemeinsam mit ihren Eltern möglichst frühzeitig einen Zahnarztbesuch wahrnehmen, um mögliche Munderkrankungen präventiv zu beeinflussen und die Mundgesundheit zu fördern.

Abschließend möchte ich im Namen der Bundeszahnärztekammer dem engagierten Praxispersonal, den niedergelassenen Zahnärzten, den Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege und den Zahnärzten des öffentlichen Gesundheitsdienstes die seit Jahren "vor Ort" an der Umsetzung einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde arbeiten, ein herzliches Dankeschön für die geleistete Arbeit sagen. Ohne die großartige Unterstützung dieser vielen Partner im Bereich Mundgesundheit wären die bisher erreichten Erfolge insbesondere in der Kariesprävention nicht möglich!